Kanzlei für Wirtschaftsrecht
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OLG Celle: Beweiswirkung des eEB
1. Das von einem Rechtsanwalt elektronisch abgegebene Empfangsbekenntnis (eEB) erbringt gegenüber dem Gericht den vollen Beweis nicht nur für die Entgegennahme des Dokuments als zugestellt, sondern auch für den angegebenen Zeitpunkt der Entgegennahme und damit der Zustellung. Für den Gegenbeweis, dass das zuzustellende Schriftstück den Adressaten tatsächlich zu einem anderen Zeitpunkt erreicht hat, muss die Beweiswirkung vollständig entkräftet werden.
2. Ein ungewöhnlich langer Zeitraum zwischen dem dokumentierten Zeitpunkt der elektronischen Übersendung des Dokuments und dem im Empfangsbekenntnis angegebenen Zustelldatum (hier: sechs Wochen) erbringt den Beweis der Unrichtigkeit der Datumsangabe für sich genommen noch nicht. In einem solchen Fall kann die Partei nach den Grundsätzen der sekundären Darlegungslast verpflichtet sein, sich substantiiert zu den Umständen zu erklären, die die Richtigkeit des Empfangsbekenntnisses zweifelhaft erscheinen lassen, und zu dem tatsächlichen Zeitpunkt der subjektiv empfangsbereiten Kenntnisnahme vorzutragen. Außerdem kann das Gericht nach §§ 142, 144 ZPO die Vorlage des beA-Nachrichtenjournals des Rechtsanwalts der Partei anordnen. Erklärt sich die Partei nicht und legt auch das beA-Nachrichtenjournal ihres Rechtsanwalts nicht vor, kann der Beweis der Unrichtigkeit des in dem Empfangsbekenntnis angegebenen Zustelldatums geführt sein.
OLG Celle, Beschluss vom 31. Januar 2025 – 20 U 8/24
(LG Hannover, 25. April 2024, 4 O 134/22, Urteil)
Das Problem:
In einem Berufungsverfahren hat der Senat mit Hinweisbeschluss gemäß § 522 Abs. 2 ZPO vom 28. Oktober 2024 dem Kläger Gelegenheit zur Stellungnahme innerhalb von drei Wochen ab Zustellung gegeben. Der Senatsbeschluss ist am 5. November 2024 um 13:08 Uhr elektronisch (u.a.) an den Klägervertreter versendet worden. Die elektronische Eingangsbestätigung aus dem System des Klägervertreters weist als Datum des Eingangs auf seinem Server (Ende des Empfangsvorgangs) den 5. November 2024 um 13:08:24 Uhr aus. Am 16. Dezember 2024 (13:31:08 Uhr) hat der Klägervertreter das elektronische Empfangsbekenntnis an das OLG übersandt und als Zustelldatum den 16. Dezember 2024 angegeben. Mit Beschluss vom selben Tag hat der Senat den Klägervertreter aufgegeben mitzuteilen, ob es sich bei der Datumsangabe um ein Versehen handele und – verneinendenfalls – die Vorlage des beA-Nachrichtenjournals zu der elektronischen Übersendung des Senatsbeschlusses vom 28. Oktober 2024 bis zum 23. Dezember 2024 angeordnet. Daraufhin hat der Kläger beantragt, ihm eine Frist zur Erwiderung bis zum 23. Januar 2025 einzuräumen. Diesen Antrag hat der Senat zurückgewiesen, aber darauf hingewiesen, nicht vor dem 14. Januar 2025 über die Berufung des Klägers zu entscheiden. Mit Schriftsatz vom 13. Januar 2025 hat der Kläger Stellung genommen.
Die Entscheidung des Gerichts:
Der Schriftsatz des Klägers vom 13. Januar 2025 ist erst nach Ablauf der insoweit nach § 522 Abs. 2 Satz 2 ZPO gesetzten Frist eingegangen. Der Hinweisbeschluss vom 28. Oktober 2024 ist dem Klägervertreter schon deutlich vor dem 16. Dezember 2024 gemäß § 173 Abs. 3 ZPO zugestellt worden. Davon ist der Senat überzeugt, nachdem der Kläger seiner sekundären Darlegungslast nicht nachgekommen ist und sich – trotz entsprechender Hinweise des Senats – nicht substantiiert zu den Umständen erklärt hat, die die Richtigkeit des vorliegenden Empfangsbekenntnisses zweifelhaft erscheinen lassen. Zudem hat er – trotz gerichtlicher Anordnung – auch nicht das beA-Nachrichtenjournal des Klägervertreters vorgelegt. Die Zustellung eines elektronischen Dokuments an einen Rechtsanwalt nach § 173 Abs. 2 Satz 1 Nr. 1 ZPO wird gem. § 173 Abs. 3 Satz 1 ZPO durch ein eEB nachgewiesen, das an das Gericht zu übermitteln ist. Für die Rücksendung des eEB in Form eines strukturierten Datensatzes per beA ist es erforderlich, dass aufseiten des die Zustellung empfangenden Rechtsanwalts die Nachricht geöffnet sowie mit einer entsprechenden Eingabe ein Empfangsbekenntnis erstellt, das Datum des Erhalts des Dokuments eingegeben und das so generierte Empfangsbekenntnis versendet wird. Die Abgabe des eEB setzt mithin die Willensentscheidung des Empfängers voraus, das elektronische Dokument an dem einzutragenden Zustellungsdatum als zugestellt entgegenzunehmen. Darin liegt die erforderliche Mitwirkung des Rechtsanwalts, ohne dessen aktives Zutun ein eEB nicht ausgelöst wird. Das von einem Rechtsanwalt elektronisch abgegebene Empfangsbekenntnis erbringt insoweit gemäß § 175 Abs. 3 ZPO (= § 174 Abs. 4 Satz 1 ZPO a.F.) gegenüber dem Gericht den vollen Beweis nicht nur für die Entgegennahme des Dokuments als zugestellt, sondern auch für den angegebenen Zeitpunkt der Entgegennahme und damit der Zustellung. Der Gegenbeweis, dass das zuzustellende Schriftstück den Adressaten tatsächlich zu einem anderen Zeitpunkt erreicht hat, ist damit zwar nicht ausgeschlossen; nicht ausreichend ist aber eine bloße Erschütterung der Richtigkeit der Angaben im eEB. Vielmehr muss die Beweiswirkung vollständig entkräftet, also jede Möglichkeit der Richtigkeit der Empfangsbestätigung ausgeschlossen werden. An die Führung des die Beweiswirkungen eines anwaltlichen Empfangsbekenntnisses beseitigenden Gegenbeweises sind strenge Anforderungen zu stellen. Eine erhebliche zeitliche Diskrepanz bzw. ein ungewöhnlich langer Zeitraum zwischen dem Zeitpunkt der Übersendung des Dokuments und dem im Empfangsbekenntnis angegebenen Zustelldatum erbringt den Gegenbeweis für sich genommen noch nicht. Auch das Datum des Eingangs der elektronischen Nachricht ist insoweit nicht hinreichend aussagekräftig, da dies nicht mit dem Zustelldatum gleichgesetzt werden kann. Für Letzteres bedarf es darüberhinausgehend der Kenntniserlangung und empfangsbereiten Entgegennahme seitens des Rechtsanwalts. Es kommt also wie bisher nicht auf den Eingang im Postfach des Rechtsanwalts an.
Zugleich ist aber zu berücksichtigen, dass an den Beweis der Unrichtigkeit des Empfangsbekenntnisses auch keine überspannten Anforderungen gestellt werden dürfen. Es gelten die Grundsätze der sekundären Darlegungslast, wenn konkrete Umstände – wie beispielsweise ein ungewöhnlich langer Zeitraum zwischen dem Zeitpunkt der elektronischen Übersendung des Dokuments und dem im eEB angegebenen Zustelldatum – die Richtigkeit des Empfangsbekenntnisses zweifelhaft erscheinen lassen. Das ist bei der Annahme- bzw. Empfangsbereitschaft als Voraussetzung für die Zustellung gegen EB nach §§ 173, 175 ZPO der Fall. Zu der subjektiven Willensentscheidung, das elektronische Dokument an dem einzutragenden Zustellungsdatum als zugestellt entgegenzunehmen, können nur die betreffende Partei und ihr Prozessbevollmächtigter vortragen. Für das Empfangsbekenntnis hat das zur Folge, dass sich der Prozessgegner zu Umständen, die die Richtigkeit des Empfangsbekenntnisses zweifelhaft erscheinen lassen, substantiiert erklären muss. Er kann sich daher nicht damit begnügen, pauschal die Richtigkeit des Empfangsbekenntnisses zu behaupten, sondern muss seinerseits erklären, wann sein Rechtsanwalt die Nachricht zum ersten Mal gelesen hat und wie es zu der Verzögerung kam.
Außerdem kann nach §§ 142, 144 ZPO die gerichtliche Anordnung getroffen werden, das beA-Nachrichtenjournal des Rechtsanwalts vorzulegen, wenn begründete Zweifel an der Richtigkeit des Empfangsbekenntnisses bestehen, wenn auch die Beweislast damit nicht übergeht. Denn in der beA-Infrastruktur wird für jede Nachricht, die gesendet oder empfangen wird, ein Eintrag als sog. Nachrichtenjournal erzeugt. .Die beA-Nachrichten inklusive des zugehörigen Journals werden nach 120 Tagen automatisch gelöscht. Ob Rechtsanwälte darüber hinaus gemäß § 50 BRAO die beA-Nachrichten und damit auch das Nachrichtenjournal vor der Löschung zu exportieren und zu archivieren haben, kann dahinstehen, weil der Zeitraum der automatischen Löschung von 120 Tagen im Zeitpunkt der Anordnung durch den Senat noch nicht verstrichen war. Dabei ist zwar stets zu berücksichtigen, dass auch das beA-Nachrichtenjournal lediglich objektive Umstände nachzuweisen vermag, aber keinen unmittelbaren bzw. zwingenden Rückschluss im Hinblick auf die (subjektive) Willensentscheidung des Empfängers zulässt, das elektronische Dokument als zugestellt entgegenzunehmen. Allerdings muss sich die betroffene Partei gleichwohl substantiiert zu den Umständen erklären, die die Richtigkeit des Empfangsbekenntnisses – etwa wegen der zeitlichen Diskrepanz – zweifelhaft erscheinen lassen, und es kann ggf. auf einen (konkludenten) Annahmewillen geschlossen werden. Diesen Maßstab zugrunde gelegt ist der Senat davon überzeugt, dass die Zustellung des Hinweisbeschlusses nach § 173 Abs. 3 ZPO tatsächlich schon so früh – mithin (deutlich) vor dem 29. November 2024 – erfolgt ist, dass die Stellungnahmefrist im Zeitpunkt des Schriftsatzes vom 23. Dezember 2024 und erst recht bei Eingang des Schriftsatzes vom 13. Januar 2025 bereits abgelaufen war. Der Kläger ist weder seiner sekundären Darlegungslast nachgekommen noch hat er das beA-Nachrichtenjournal seines Prozessbevollmächtigten vorgelegt. Vielmehr hat er den Hinweisbeschluss des Senats vom 16. Dezember 2024 ignoriert und die benannten Ungereimtheiten in Bezug auf die zeitlichen Abläufe nicht erklärt. Der Gegenbeweis zu dem in dem elektronischen Empfangsbekenntnis von dem Klägervertreter angegebenen Datum ist damit – trotz der an ihn zu stellenden strengen Anforderungen – geführt; es ist ausgeschlossen, dass die Zustellung (erst) am 16. Dezember 2024 erfolgt ist.
Konsequenzen für die Praxis:
Die Bedeutung des beA-Nachrichtenjournals für die sekundäre Beweislast hat erstmals das OLG München herausgearbeitet (OLG München, Beschluss vom 19. Juni 2024 – 23 U 8369/21 –, MDR 2024, 1234). Dem hat sich das Kammergericht angeschlossen (KG Berlin, Beschluss vom 24. Januar 2025 – 7 U 17/24 –, juris): Auch wenn das beA-Nachrichtenjournal nicht mehr jederzeit ohne weiteres abrufbar ist, weil beA-Nachrichten inklusive des zugehörigen Journals nach 120 Tagen automatisch gelöscht werden, sind Rechtsanwälte gemäß § 50 BRAO verpflichtet, die beA-Nachrichten (und damit auch das Nachrichtenjournal) vor der Löschung zu exportieren und zu archivieren. Wird die Vorlage des Journals angeordnet und unterbleibt aber, kann dahinstehen, ob der Parteivertreter das Nachrichtenjournal trotz Besitzes desselben nicht vorgelegt hat oder ob die Nichtvorlage des Nachrichtenjournals auf mangelnder Archivierung beruht, denn beides wäre gleichermaßen nach den Grundsätzen der Beweisvereitelung zu würdigen. Zudem ist zu berücksichtigen, dass ein Rechtsanwalt gemäß § 53 Abs. 1 Nr. 1 BRAO schon im Falle einer Verhinderung von mehr als einer Woche für seine Vertretung sorgen muss, die gemäß § 54 Abs. 2 Satz 2 BRAO auch zur Abgabe elektronischer Empfangsbekenntnisse befugt sein muss und also – gleich einem Zustellungsbevollmächtigten – für eine zeitnahe Entgegennahme und Bestätigung von Zustellungen Sorge zu tragen hat.
Beraterhinweis:
Lässt sich die Zustellung nicht nachweisen, so gilt ein Dokument nach § 189 ZPO in dem Zeitpunkt als zugestellt, in dem es der Person, an die die Zustellung gerichtet war, tatsächlich zugegangen ist. Zwar kann die für eine Zustellung erforderliche Empfangsbereitschaft nicht allein durch den bloßen Nachweis des tatsächlichen Zugangs iSv. § 189 ZPO ersetzt werden. Hinzukommen muss noch die zumindest konkludente Äußerung des Willens, das zur Empfangnahme angebotene Schriftstück dem Angebot entsprechend als zugestellt entgegen zu nehmen. Die fehlende Zurücksendung des EB lässt dabei für sich genommen keinen entscheidend gegen eine fehlende Empfangsbereitschaft sprechenden Willen des Adressaten erkennen. Denn von einer Weigerung, das zuzustellende Schriftstück in Empfang zu nehmen, kann auch bei fehlender Rücksendung eines unterschriebenen Empfangsbekenntnisses nicht ausgegangen werden, wenn die Gesamtumstände gleichwohl in gegenteilige Richtung weisen und hinreichend zuverlässig auf die Empfangsbereitschaft des Adressaten schließen lassen (BGH, Beschluss vom 13. Januar 2015 – VIII ZB 55/14 –, Rn. 12, AnwBl 2015, 349 mwN.).
Zur Fortführung eines selbständigen Beweisverfahrens
Es besteht die Möglichkeit, ein selbständiges Beweisverfahren fortzuführen oder wieder aufzunehmen, nahezu immer und insbesondere auch dann, wenn ein hierauf gerichteter Antrag erst lange nach Ablauf einer angemessenen Frist gestellt wird.
OLG Hamm, Beschluss vom 7. Oktober 2024 – I-12 W 21/24
A. Problemstellung
Ob Beteiligte am einem selbständigen Beweisverfahren auch nach Ablauf einer vom Gericht gesetzten Frist zu einem eingeholten Sachverständigengutachten Stellung nehmen und ergänzende Fragen an den Sachverständigen stellen dürfen, hatte das OLG Hamm zu entscheiden.
B. Inhalt und Gegenstand der Entscheidung
In einem selbstständigen Beweisverfahren hat das Landgericht die Ergänzung des Beweisbeschlusses um die im Schriftsatz der Verfahrensbevollmächtigten der Antragsgegnerin vom 16.07.2024 formulierten Fragen mit der Begründung verweigert, die zur Stellungnahme zum Gutachten des Sachverständigen gesetzte Frist sei abgelaufen.
Die sofortige Beschwerde der Antragsgegnerin hat Erfolg. Das Landgericht durfte die Ergänzung des Beweisbeschlusses schon deshalb nicht mit der Begründung verweigern, die zur Stellungnahme zum Gutachten des Sachverständigen gesetzte Frist sei abgelaufen, weil es an einer für die Zurückweisung des Antrages der Antragsgegnerin gem. § 296 Abs. 1 ZPO erforderlichen wirksamen Fristsetzung zur Antragstellung nach §§ 492 Abs. 1, 411 Abs. 4 Satz 2 ZPO fehlt. Präklusionsvorschriften haben strengen Ausnahmecharakter, weil sie das Grundrecht auf rechtliches Gehör einschränken und sich zwangsläufig nachteilig auf das Bemühen um eine materiell richtige Entscheidung auswirken. Sie ziehen damit einschneidende Folgen für die säumige Partei nach sich. Ihre Anwendung steht unter dem besonderen Gebot der Rechtssicherheit und Rechtsklarheit. Deshalb muss das Gericht den Inhalt seiner Verfügung, mit der es eine Frist iSd. § 296 Abs. 1 ZPO setzt, klar und eindeutig abfassen, so dass bei der betroffenen Partei von Anfang an vernünftigerweise keine Fehlvorstellungen über die gravierenden Folgen der mit der Nichtbeachtung der Frist verbundenen Rechtsfolgen aufkommen können. Diesen Voraussetzungen genügte die Verfügung vom 01.05.2024 nicht. Mit ihr hat der Kammervorsitzende lediglich angeordnet, dass den Parteien Gelegenheit zur Stellungnahme zum gleichzeitig übersandten Gutachten des Sachverständigen Stellung gegeben wird. Offensichtlich handelte es sich dabei nur um eine Verfügung, mit der nach Eingang des schriftlichen Gutachtens der Dialog zwischen den Parteien über dessen Inhalt eröffnet, zugleich aber auch zeitlich begrenzt werden sollte. Eine darüber hinausgehende Bedeutung ist dieser Verfügung nicht zu entnehmen. Eine Präklusionswirkung kann der Ablauf einer richterlichen Frist zum Vorbringen von Einwendungen gegen das Gutachten und der die Begutachtung betreffenden Anträge nach §§ 492 Abs. 1, 411 Abs. 4 Satz 1 ZPO aber nur dann auslösen, wenn bei den Parteien keine Fehlvorstellungen über diese Wirkung aufkommen können. Daran fehlte es hier. In der Verfügung vom 01.05.2024 hat das Landgericht den Parteien zugleich mit der Übersendung des Gutachtens des Sachverständigen lediglich Gelegenheit gegeben, hierzu binnen vier Wochen Stellung zu nehmen. Einen Hinweis auf den Ausschluss eines erst nach Ablauf der Frist eingehenden Vorbringens hat es damit nicht verbunden.
Ungeachtet dessen besteht die Möglichkeit, ein selbständiges Beweisverfahren fortzuführen oder wieder aufzunehmen, nahezu immer und insbesondere auch dann, wenn ein hierauf gerichteter Antrag erst lange nach Ablauf einer angemessenen Frist gestellt wird. Zweck des selbständigen Beweisverfahrens ist es insbesondere, durch eine umfassende Klärung der zwischen den Parteien streitigen tatsächlichen Fragen eine zügige Beilegung des Streits ohne Durchführung eines streitigen Verfahrens zu ermöglichen. Dieser Zweck wird nicht erreicht, wenn die Parteien darauf verwiesen werden, es bleibe ihnen unbenommen, ein neues, eigenes selbständiges Beweisverfahren durchzuführen oder im Hauptsacheverfahren auf eine ergänzende Beweiserhebung hinzuwirken.
C. Kontext der Entscheidung
Die tragende Begründung des Beschlusses ist nicht zu beanstanden und steht in Übereinstimmung mit der höchstrichterlichen Rechtsprechung: „Der Senat lässt insoweit dahinstehen, ob die nicht in einer mündlichen Verhandlung gem. § 411 Abs. 4 ZPO bestimmte Frist von sechs Wochen zur Stellungnahme zu dem Gutachten schon deshalb keine Ausschlusswirkung für verspätetes Vorbringen nach § 296 Abs. 1 ZPO herbeiführen konnte, weil die mit einer Frist versehene Aufforderung nicht durch die Kammer beschlossen, sondern allein durch den Vorsitzenden verfügt worden ist. Einen Ausschluss der erst lange nach Fristablauf von der Beklagten vorgetragenen Beweiseinreden und des Antrags auf Ladung des Sachverständigen konnte die Fristsetzung hier jedenfalls deshalb nicht herbeiführen, weil es an dem dafür erforderlichen Hinweis an die Parteien über die Folgen einer Nichtbeachtung der Frist fehlte. Eine Präklusionswirkung kann der Ablauf einer richterlichen Frist zum Vorbringen der Einwendungen gegen das Gutachten und der die Begutachtung betreffenden Anträge nach § 411 Abs. 4 Satz 1 ZPO nur dann auslösen, wenn bei der Partei keine Fehlvorstellungen über diese Wirkung aufkommen können. Daran fehlte es hier. In der Verfügung wurden die Parteien zu einer Stellungnahme zu dem Gutachten in einer von dem Richter bestimmten Frist aufgefordert, ohne dass dies mit einem Hinweis auf einen Ausschluss eines erst nach Ablauf der Frist eingehenden Vorbringens verbunden wurde (BGH, Beschluss vom 25. Oktober 2005 – V ZR 241/04 –, Rn. 8, mwN.). Nicht nachvollziehbar ist hingegen das obiter dictum des OLG: „Ungeachtet dessen besteht die Möglichkeit, ein selbständiges Beweisverfahren fortzuführen oder wieder aufzunehmen, nahezu immer und insbesondere auch dann, wenn ein hierauf gerichteter Antrag erst lange nach Ablauf einer angemessenen Frist gestellt wird.“ (OLG Hamm, Beschluss vom 7. Oktober 2024 – I-12 W 21/24 –, Rn. 9). Das OLG will sich dafür auf eine Entscheidung des VII. Zivilsenats des BGH aus dem Jahre 2010 berufen. Dort heißt es aber: „Haben die Parteien rechtzeitig Einwendungen gegen das im selbständigen Beweisverfahren erstattete Gutachten erhoben, ist - sofern nicht eine weitere Beweisaufnahme stattfindet - das selbständige Beweisverfahren jedenfalls dann beendet, wenn der mit der Beweisaufnahme befasste Richter zum Ausdruck bringt, dass eine weitere Beweisaufnahme nicht stattfindet und dagegen innerhalb angemessener Frist keine Einwände erhoben werden.“ (BGH, Urteil vom 28. Oktober 2010 – VII ZR 172/09 –, Rn. 14). Deshalb kommt der BGH zu dem Schluss, dass das dortige selbständige Beweisverfahren beendet ist, weil der Antrag auf Anhörung des Sachverständigen nicht innerhalb angemessener Frist gestellt wurde und die Beweisaufnahme daher zu Recht nicht fortgeführt wurde. Unklar ist, was der BGH mit dem Hinweis meint, „dass ein selbständiges Beweisverfahren fortgeführt oder wieder aufgenommen“ werden kann, und zwar „nahezu immer“. Denn dem folgt der BGH gerade nicht, sondern führt aus: „Wollte man für die Beendigung des selbständigen Beweisverfahrens auf die damit verbundene Ungewissheit und deren Beseitigung durch einen gerichtlichen Beschluss abstellen, hätte es der Antragsteller in der Hand, durch verspätet gestellte Anträge das Ende des selbständigen Beweisverfahrens hinauszuzögern.“ (BGH, Urteil vom 28. Oktober 2010 – VII ZR 172/09 –, Rn. 20). Es bleibt somit – entgegen dem OLG Hamm – dabei, dass ein selbständiges Beweisverfahren grundsätzlich mit der sachlichen Erledigung der beantragten Beweissicherung anderweitig beendet iSv. § 204 Abs. 2 Satz 1 Fall 2 BGB ist. Erfolgt die Beweiserhebung durch ein schriftliches Sachverständigengutachten, ist dies mit dessen Übersendung an die Parteien der Fall, wenn weder das Gericht nach § 492 Abs. 1, § 411 Abs. 4 Satz 2 ZPO eine Frist zur Stellungnahme gesetzt hat noch die Parteien innerhalb eines angemessenen Zeitraums Einwendungen dagegen oder das Gutachten betreffende Anträge oder Ergänzungsfragen mitteilen. Läuft eine vom Gericht gesetzte Frist zur Stellungnahme ab, ohne dass die Parteien hiervon Gebrauch machen, endet das Verfahren grundsätzlich mit deren Ablauf (BGH, Urteil vom 22. Juni 2023 – VII ZR 881/21 –, Rn. 22, mwN.).
D. Auswirkungen für die Praxis
Die Beantragung einer erneuten Begutachtung ist zu unterscheiden von der – schriftlichen oder mündlichen – Ergänzung oder Erläuterung eines bereits eingeholten Gutachtens durch denselben Sachverständigen. Letztere sind bis zur Beendigung des selbstständigen Beweisverfahrens zulässig (BeckOK ZPO/Kratz, 55. Ed. 1.12.2024, ZPO § 485 Rn. 40). Gegen die Ablehnung der Einholung eines weiteren Gutachtens gemäß § 412 ZPO ist im selbständigen Beweisverfahren kein Rechtsmittel gegeben. Dies ergibt sich aus § 567 Abs. 1 ZPO. Weder ist im Gesetz ausdrücklich bestimmt, dass gegen die im selbständigen Beweisverfahren ergangene Entscheidung, kein weiteres Gutachtens gemäß § 412 ZPO einzuholen, die sofortige Beschwerde statthaft ist (§ 567 Abs. 1 Nr. 1 ZPO), noch handelt es sich in diesen Fällen um eine von § 567 Abs. 1 Nr. 2 ZPO erfasste Entscheidung. Die Beweismöglichkeiten im selbständigen Beweisverfahren gehen grundsätzlich nicht weiter als im Hauptsacheverfahren. Im Erkenntnisverfahren ist gegen die Ablehnung der Einholung eines neuen Gutachtens grundsätzlich kein Rechtsmittel gegeben. Nach § 492 ZPO folgt die Beweisaufnahme im selbständigen Beweisverfahren den Regeln des Erkenntnisverfahrens. Würde den Parteien im selbständigen Beweisverfahren ein Beschwerderecht eingeräumt, erhielten sie ein Rechtsmittel an die Hand, welches ihnen bei einer Beweiserhebung in der Hauptsache nicht zur Verfügung stünde. Gründe für eine abweichende Regelung im selbständigen Beweisverfahren sind nicht vorhanden (BGH, Beschluss vom 9. Februar 2010 – VI ZB 59/09 –, Rn. 7 - 8).
BGH: Zum allg. Sprachgebrauch
1. Der allgemeine Sprachgebrauch ist als allgemeiner Erfahrungssatz revisibel.
2. Es gibt keinen allgemeinen Sprachgebrauch des Inhalts, dass unter einem in einem bestimmten Jahr komplett erneuerten Dach stets nur die Erneuerung der obersten Dachschicht (hier: Bitumenbahnen) zu verstehen ist.
BGH, Urteil vom 6. Dezember 2024 – V ZR 229/23
A. Problemstellung
Ob unter einer kompletten Dacherneuerung nach allgemeinem Sprachgebrauch stets nur die Erneuerung der äußeren Dachschicht zu verstehen ist, wie das Berufungsgericht gemeint hatte, musste der V. Zivilsenat entscheiden.
B. Inhalt und Gegenstand der Entscheidung
Die Kläger erwarben von der Beklagten 2021 ein mit einem Einfamilienhaus bebautes Grundstück unter Ausschluss der Haftung für Sachmängel. In dem Maklerexposé, in dem das Haus zum Verkauf angeboten worden war, heißt es u.a. wie folgt: „Das Haus wurde 1974 errichtet. Die drei Zimmer befinden sich auf einer Ebene. (...) Das Haus befindet sich in einem sehr guten Zustand. 2009 wurde das Dach komplett erneuert, 2016 wurde das Haus von außen gedämmt und verputzt. 2018 wurde eine moderne Gasheizung (Brennwerttherme) installiert.“ Tatsächlich waren auf dem Dach im Jahr 2009 lediglich neue Bitumenbahnen verklebt und verschweißt worden. Gestützt darauf, das Dach sei 2009 nicht komplett erneuert worden, sondern befinde sich in dem Zustand, wie er bei Errichtung 1974 bestanden habe, und erfülle nicht die Richtlinien der Energieeinsparverordnung (EnEV), verlangen die Kläger von der Beklagten Ersatz der Kosten für die Erneuerung des Dachs in Höhe von 20.337,03 € netto. Das Landgericht hat der Klage stattgeben. Auf die Berufung der Beklagten hat das Oberlandesgericht die Klage insgesamt abgewiesen. Es liege kein Mangel iSd. § 434 Abs. 3 Satz 1 Nr. 2 Buchst. b) BGB vor. Das ergebe die Auslegung der Angabe in dem Exposé, das Dach sei 2009 komplett erneuert worden, gemäß §§ 133, 157 BGB anhand des allgemeinen Sprachgebrauchs. Nach dem allgemeinen Sprachgebrauch werde unter „Dach“ (nur) der Abschluss eines Gebäudes verstanden, der entweder durch eine horizontale Fläche oder durch eine mit Ziegeln oder anderem Material - wie hier Bitumen - gedeckte Konstruktion gebildet werde, bei der die Flächen in einem bestimmten Winkel zueinander stünden. Das schließe Dämmung und Unterkonstruktion nicht ein. Nach dem allgemeinen Sprachgebrauch bedeute „komplett“ vollständig. Der Begriff „erneuern“ werde im Duden mit „1. (altes, verbrauchtes) gegen neues auszuwechseln. 2. (durch Ausbessern, Auswechseln von Einzelteilen, Neuanstrich o.ä.) wiederherstellen, renovieren“ beschrieben. Das Exposé besage somit nur, dass 2009 eine Dachabdichtung vorgenommen worden sei, bei der alte Bitumenbahnen durch neue ersetzt worden seien. Gemessen daran sei von einer vollständigen Ausbesserung des Dachs durch die Beklagte auszugehen.
Der BGH hebt das Berufungsurteil auf und verweist den Rechtsstreit zurück. Mit der gegebenen Begründung kann ein Schadensersatzanspruch der Kläger gegen die Beklagte nach § 437 Nr. 3, § 281 Abs. 1 Satz 1, § 280 Abs. 1 und 3 BGB nicht verneint werden. Zutreffend ist allerdings der rechtliche Ausgangspunkt des Berufungsgerichts. Nach § 434 Abs. 1 Satz 3 BGB in der hier noch anwendbaren, bis zum 31. Dezember 2021 geltenden Fassung (nachfolgend: aF; jetzt in der Sache unverändert § 434 Abs. 3 Satz 1 Nr. 2 Buchst. b] BGB) gehören zu der Sollbeschaffenheit auch die Eigenschaften, die der Käufer nach den öffentlichen Äußerungen des Verkäufers erwarten darf, wozu auch Angaben in einem Exposé zählen. Dabei macht es keinen Unterschied, ob es sich um ein von dem Verkäufer selbst erstelltes Exposé oder um ein Maklerexposé handelt. Hier fand sich in dem Verkaufsexposé des Maklers die Angabe, dass das Dach des verkauften Hauses im Jahr 2009 komplett erneuert worden sei. Diese Beschaffenheit durften die Kläger erwarten. Rechtsfehlerhaft verneint das Berufungsgericht einen Sachmangel gemäß § 434 Abs. 1 Satz 3 BGB aF mit der Begründung, die Angabe in dem Exposé, das Dach des Hauses sei 2009 komplett erneuert worden, bedeute nach dem allgemeinen Sprachgebrauch, dass im Jahr 2009 lediglich auf der gesamten Dachfläche Bitumenbahnen verschweißt und verklebt worden seien. Die Auslegung einer Individualerklärung nach §§ 133, 157 BGB kann von dem Revisionsgericht zwar im Grundsatz nur eingeschränkt überprüft werden, nämlich darauf, ob der Tatrichter die gesetzlichen und allgemein anerkannten Auslegungsregeln, die Denkgesetze und Erfahrungssätze beachtet und die der Auslegung zugrunde gelegten Tatsachen ohne Verfahrensfehler ermittelt hat. Anders ist es aber, soweit das Tatgericht bei der Auslegung einen allgemeinen Sprachgebrauch und damit einen Erfahrungssatz im Sinne der Feststellung einer bei dem Gebrauch der deutschen Sprache allgemein bestehenden Übung zugrunde legt. Der allgemeine Sprachgebrauch ist als allgemeiner Erfahrungssatz revisibel.
Die Auslegung nach dem allgemeinen Sprachgebrauch durch das Berufungsgericht hält der uneingeschränkten revisionsrechtlichen Nachprüfung nicht stand. Es gibt keinen allgemeinen Sprachgebrauch des Inhalts, dass unter einem in einem bestimmten Jahr komplett erneuerten Dach stets nur die Erneuerung der obersten Dachschicht zu verstehen ist. Ein Sprachgebrauch mit diesem Inhalt kann dem Duden nicht entnommen werden. Das Berufungsgericht zieht insoweit die Dudeneinträge zu den Begriffen „Dach“, „komplett“ und „erneuern“ heran. Dabei übersieht es, dass in dem Duden ein „Dach“ nur ganz allgemein beschrieben wird, ohne zwischen den verschiedenen Dachtypen zu differenzieren und die möglichen Schichten des Dachaufbaus zu nennen. Dass nach dem allgemeinen Sprachgebrauch mit „Dach“ immer nur die äußere Dachschicht gemeint ist, ergibt sich daraus nicht. Dementsprechend bedeutet „komplette Erneuerung“ auch nicht allgemein die Erneuerung (nur) der obersten Dachschicht. Andere Anhaltspunkte dafür, dass sich ein allgemeiner, eindeutiger Sprachgebrauch hinsichtlich der Formulierung, ein Dach sei in einem bestimmten Jahr komplett erneuert worden, gebildet hat, sind nicht erkennbar.
Nach der Online-Enzyklopädie Wikipedia ist ein Dach „im Bauwesen eine Konstruktion, die darunterliegende Räume und Flächen nach oben hin abschließt und sie dadurch vor Sonne, Witterung und anderen von oben eindringenden Einflüssen schützt.“ Mit dieser Formulierung aus dem Bereich des Bauwesens wird nicht ein allgemeiner Sprachgebrauch wiedergegeben, sondern lediglich die Funktion eines Dachs im Allgemeinen beschrieben. In der Anlage 3 Nr. 4 zu § 9 EnEV in der zum Zeitpunkt der Sanierung des Dachs geltenden Fassung werden zwar die Begriffe „Dach“ und „Erneuerung“ verwendet. Auch hier wird die äußere Dachhaut aber nur als einer von mehreren Bestandteilen des Dachs genannt, was eher gegen den von dem Berufungsgericht zugrunde gelegten allgemeinen Sprachgebrauch spricht. Abgesehen davon gibt die EnEV aF einen technischen und nicht einen allgemeinen Sprachgebrauch wieder. Was mit einer Kompletterneuerung eines Dachs gemeint ist, kann nicht allgemein bestimmt werden, weil es für das Verständnis auf den jeweiligen Dachtyp und die jeweiligen Bestandteile (Schichten) des Dachaufbaus ankommt. Wird angegeben, dass das Dach in einem bestimmten Jahr komplett erneuert worden sei, können zudem auch die in diesem Jahr geltenden Vorschriften über die Anforderungen an eine Kompletterneuerung das Verständnis beeinflussen.
Das Berufungsurteil kann daher keinen Bestand haben. Eine eigene Sachentscheidung ist dem Senat nicht möglich; vielmehr bedarf es weiterer Feststellungen des Berufungsgerichts. Weil ein allgemeiner Sprachgebrauch hinsichtlich der Angaben der Beklagten in dem Exposé nicht besteht, kommt es für die Haftung der Beklagten nach § 437 Nr. 3, §§ 280, 281 BGB darauf an, wie ein redlicher und verständiger Käufer nach Treu und Glauben und der Verkehrssitte die Angabe in dem Exposé verstehen durfte (§§ 133, 157 BGB). Maßgeblich ist, ob nach dem Inhalt des Exposés ein durchschnittlicher Käufer eine vollständige Erneuerung des Dachs einschließlich Unterkonstruktion und Dämmung erwarten konnte. Die von dem Berufungsgericht unterlassene Auslegung aus der Sicht eines durchschnittlichen Grundstückskäufers kann der Senat nicht selbst vornehmen. Es ist nämlich unklar, um was für eine Art von Dach es sich handelt und aus welchen Schichten es aufgebaut ist. In dem Berufungsurteil wird teils von einem Faltdach gesprochen, in einem anderen Zusammenhang von einer Betondecke, dann ist wiederum von einer Dämmung die Rede. 16
C. Kontext der Entscheidung
Dass der allgemeine Sprachgebrauch revisibel ist, entspricht seit über hundert Jahren höchstrichterlicher Rechtsprechung (RG, Urteil vom 06. Dezember 1922 – V 114/22 –, RGZ 105, 417-421). Die Rechtsprechung des Reichsgerichts ist vom Bundesgerichtshof fortgeführt worden. So hat der V. Zivilsenat entschieden, dass der Begriff eines "Wohnhauses" (Wohngebäudes) nach dem allgemeinen Sprachgebrauch nicht schon dadurch beeinträchtigt wird, dass sich im Hause einzelne Geschäftsräume, auch Läden von Einzelhandelsgeschäften, befinden. Der allgemeine Sprachgebrauch ist im Sinne eines allgemeinen Erfahrungssatzes revisibel (BGH, Urteil vom 2. Mai 1956 – V ZR 157/54). Der VII. Zivilsenat hat entschieden, dass der Ausdruck "Alleinauftrag" kein im Gesetz vorkommender und deshalb revisibler Begriff ist. Jedoch kann das Revisionsgericht die Auslegung des Wortsinnes durch das Berufungsgericht stets nachprüfen (BGH, Urteil vom 17. November 1960 – VII ZR 236/59). Dem Sprachgebrauch kommt die Bedeutung eines Erfahrungssatzes, nämlich der beim Gebrauch der deutschen Sprache allgemein bestehenden Übung, zu; er unterliegt daher in vollem Umfang revisionsgerichtlicher Überprüfung (BGH, Urteil vom 30. November 1990 – V ZR 91/89 –, Rn. 18, Rn. 18 mwN.). In einer Anmerkung zu dem oben zitierten Wohnflächenurteil des V. Zivilsenats hat Quack darauf hingewiesen, dass, wenn die Auslegung von Vertragserklärungen zugunsten einer technischen Regel nicht möglich ist, die Feststellung einer Verkehrssitte zugunsten einer bestimmten technischen Regel in Betracht kommt (Quack BauR 1991, 230).
D. Auswirkungen für die Praxis
Für das weitere Verfahren vor dem Berufungsgericht erteilt der Senat mehrere Hinweise, die einem endgültigen Prozesserfolg der Kläger im Wege stehen könnten. Zunächst ist zur Auslegung der Angaben im Exposé zu klären, um welchen Dachtyp es sich handelt und aus welchen Schichten das Dach des verkauften Hauses im Jahr 2009 bestanden hat. Die Angabe „2009 wurde das Dach komplett erneuert“ ist sodann als einheitliche Formulierung auszulegen. Dabei sind auch die in dem Exposé enthaltenen Angaben zu weiteren Erneuerungsarbeiten an dem Haus, mit denen der Zustand des Hauses insgesamt als neuwertig beschrieben wird, einzubeziehen und im Gesamtzusammenhang zu würdigen (Rn. 17). Sollte die Auslegung ergeben, dass ein durchschnittlicher Käufer eines Grundstücks die Angabe in dem Exposé so verstehen durfte, dass im Jahr 2009 das gesamte Dach einschließlich Unterkonstruktion und Dämmung erneuert worden ist, bestimmte sich das zu erwartende Maß des Wärmeschutzes nach den energetischen Anforderungen der damals geltenden Vorschriften, wozu auch die EnEV gehörte. Etwas anders folgt entgegen der Ansicht des Berufungsgerichts nicht daraus, dass die EnEV in dem Exposé nicht ausdrücklich genannt worden ist. Es handelt sich nämlich nicht, wie das Berufungsgericht meint, um eine „neue Qualitätsstufe“ der Sache, sondern um zwingendes Recht, dessen grundsätzliche Einhaltung ein Käufer auch ohne besondere Hervorhebung erwarten darf (Rn. 18). Für den Fall, dass danach ein Sachmangel nach § 434 Abs. 1 Satz 3 BGB aF vorliegen sollte, wird das Berufungsgericht zu klären haben, ob die Angaben in dem Exposé der Beklagten zuzurechnen sind. Nach § 434 Abs. 1 Satz 3 Halbsatz 2 Alt. 1 BGB aF ist die öffentliche Äußerung dem Verkäufer nicht zuzurechnen, wenn dieser die Äußerung im Zeitpunkt des Vertragsschlusses nicht kannte und auch nicht kennen konnte. Angesichts der Formulierung „es sei denn“ in § 434 Abs. 1 Satz 3 BGB aF trägt nach allgemeinen Regeln derjenige die Darlegungs- und Beweislast für die Ausnahme, der sich darauf beruft; das ist der Verkäufer, also hier die Beklagte (Rn. 19). Auf den vereinbarten allgemeinen Haftungsausschluss, der auch die nach den öffentlichen Äußerungen des Verkäufers zu erwartenden Eigenschaften eines Grundstücks erfasst, kann die Beklagte sich nur dann mit Erfolg berufen, wenn sie nicht arglistig gehandelt hat (§ 444 BGB). Für die objektive und subjektive Seite der Arglist tragen zwar die Kläger die Darlegungs- und Beweislast. Ihnen kommen jedoch Beweiserleichterungen nach den Grundsätzen der sekundären Darlegungslast zugute (Rn. 20). Weiter wird das Berufungsgericht ggf. der Frage nachzugehen haben, ob die Haftung der Beklagten nach § 442 Abs. 1 Satz 1 BGB ausgeschlossen ist. Grob fahrlässige Unkenntnis steht der Kenntnis bei Arglist des Verkäufers nicht gleich (§ 442 Abs. 1 Satz 2 BGB). Insoweit ist zu berücksichtigen, dass aus dem äußeren Erscheinungsbild des Dachs bei der Besichtigung für sich genommen auf eine Kenntnis der Kläger nicht geschlossen werden kann. Voraussetzung für eine Kenntnis iSd. § 442 Abs. 1 Satz 1 BGB ist vielmehr, dass die Kläger aus dem Erscheinungsbild gefolgert haben, dass 2009 auf der Dachfläche nur Bitumenbahnen neu verlegt und verschweißt wurden (Rn. 21). Sollte sich eine Haftung der Beklagten auf Schadensersatz gemäß § 437 Nr. 3, § 280 Abs. 1 und 3, § 281 BGB dem Grunde nach ergeben, können die Kläger die Höhe des Schadens anhand der Kosten der Erneuerung des Dachs nach den voraussichtlich erforderlichen („fiktiven“) Mängelbeseitigungskosten berechnen. Insoweit weist der Senat darauf hin, dass den Klägern, anders als das Berufungsgericht meint, hinsichtlich der Höhe der Mängelbeseitigungskosten die Beweiserleichterungen des § 287 ZPO zugutekommen (Rn. 22).
Rechnungsversand per E-Mail
1. Die Zahlung eines Schlussrechnungsbetrags aus einer Werklohnrechnung durch einen privaten Kunden nicht auf das Konto des Werkunternehmers, sondern auf das Konto eines unbekannten Dritten, nachdem die vom Werkunternehmer per E-Mail versandte Rechnung unbefugt verändert worden ist, führt nicht zur Erfüllung der Zahlungsverpflichtung im Sinne von § 362 Abs. 2 BGB.
2. Dem Kunden kann allerdings ein Schadensersatzanspruch in Höhe der auf das Drittkonto getätigten Überweisung zustehen, den er der Klagforderung des Werkunternehmers unter dem Gesichtspunkt der dolo-agit-Einwendung gemäß § 242 BGB entgegenhalten kann.
3. Ein solcher Schadensersatzanspruch kann aus Art. 82 DSGVO resultieren.
4. Art. 82 Abs. 2 DSGVO - der die in Art. 82 Abs. 1 DSGVO grundsätzlich normierte Haftungsregelung präzisiert – hat drei Voraussetzungen für die Entstehung eines Schadensersatzanspruchs, nämlich
- erstens eine Verarbeitung personenbezogener Daten im Sinne der Art. 5 Abs. 1 lit. a Var. 1, Art. 6 Abs. 1 UnterAbs. 1 lit. a, Art. 7 in Verbindung mit Art. 4 Nr. 1 und 2 DSGVO unter schuldhaftem Verstoß gegen die Bestimmungen der DSGVO,
- zweitens einen der betroffenen Person entstandenen Schaden und
- drittens einen Kausalzusammenhang zwischen der rechtswidrigen Verarbeitung und diesem Schaden.
5. Ein Verstoß gegen die Vorschriften der Datenschutzgrundverordnung durch den Verantwortlichen kann in diesem Zusammenhang nicht schon allein deswegen angenommen werden, weil ein unbefugter Zugriff auf personenbezogene Daten durch Dritte im Sinne von Art. 4 Nr. 10 DSGVO stattgefunden hat.
6. Umgekehrt ist nach der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs der Verantwortliche aber auch nicht gem. Art. 82 Abs. 3 DSGVO von seiner nach Art. 82 Abs. 1 und 2 DSGVO bestehenden Pflicht zum Ersatz des einer Person entstandenen Schadens allein deswegen befreit, weil dieser Schaden die Folge eines unbefugten Zugangs zu personenbezogenen Daten durch einen Dritten ist.
7. Vielmehr hat der Verantwortliche die Möglichkeit, aber auch die Verpflichtung, nach dem in Art. 5 Abs. 2 DSGVO formulierten und in Art. 24 DSGVO konkretisierten Grundsatz seiner Rechenschaftspflicht darzulegen und zu beweisen, dass die von ihm getroffenen Sicherheitsmaßnahmen geeignet waren, um die personenbezogenen Daten entsprechend dem von der Datenschutzgrundverordnung verlangten Sicherheitsniveau vor dem Zugriff Unbefugter zu schützen.
8. Der Europäische Gerichtshof hat die Anforderungen des Art. 32 DSGVO dahingehend ausgelegt, dass die Geeignetheit der vom Verantwortlichen nach diesem Artikel getroffenen technischen und organisatorischen Maßnahmen vor den nationalen Gerichten konkret zu beurteilen ist, wobei die mit der betreffenden Verarbeitung verbunden Risiken zu berücksichtigen sind und zu beurteilen ist, ob Art, Inhalt und Umsetzung dieser Maßnahmen diesen Risiken angemessen sind.
9. Nach Ansicht des Senats ist danach eine reine Transportverschlüsselung beim Versand von geschäftlichen E-Mails mit personenbezogenen Daten zwischen Unternehmer und Kunden jedenfalls bei dem hier bestehenden hohen finanziellen Risiko durch Verfälschung der angehängten Rechnung der Klägerin für den Kunden nicht ausreichend und kann keinen „geeigneten“ Schutz im Sinne der DSGVO darstellen. Vielmehr ist die End-to-End-Verschlüsselung zurzeit das Mittel der Wahl.
10. Gemäß Art. 82 Abs. 3 DSGVO wird der Verantwortliche von der Haftung befreit, wenn er in keinerlei Hinsicht für den schadensverursachenden Umstand verantwortlich ist. Verantwortung ist dabei das Verschulden im Sinne der deutschen Rechtsterminologie und nicht die datenschutz-rechtliche Verantwortung. Das Verschulden wird nach dem Wortlaut der Norm grundsätzlich vermutet.
11. Ist bei dem Versand von geschäftlichen E-Mails kein ausreichendes Schutzniveau zur Sicherung der personenbezogenen Daten des Kunden eingehalten, obliegt dem Verantwortlichen der Beweis dafür, dass der dem Kunden entstandene Schaden nicht durch sein Fehlverhalten entstanden ist.
12. Ein Mitverschulden des Kunden iSv § 254 BGB kann aus Abweichungen der E-Mail – hier einer angehängten Rechnung – von früheren Rechnungen resultieren und obliegt einer Prüfung im Einzelfall.
Schleswig-Holsteinisches Oberlandesgericht, Urteil vom 18. Dezember 2024 – 12 U 9/24 (rechtskräftig)
A. Problemstellung
Mit den notwendigen Sicherheitsvorkehrungen beim Versand von E-Mails mit angehängten Rechnungen im Geschäftsverkehr gegenüber Verbrauchern hatte sich das OLG Schleswig zu befassen. Das Urteil ist rechtskräftig geworden.
B. Inhalt und Gegenstand der Entscheidung
Die Parteien streiten darüber, ob die Klägerin (erneut) die Zahlung ihrer Werklohnforderung durch die Beklagte verlangen kann, nachdem der Überweisungsbetrag nach Manipulation der Rechnung durch kriminell handelnde Dritte dem Konto eines Unbekannten gutgeschrieben wurde. Das Landgericht hat der Klage stattgegeben. Der Klägerin stehe gegen die Beklagte ein Anspruch auf Zahlung der ausstehenden Vergütung in Höhe von 15.385,78 € zu. Zwischen den Parteien sei unstreitig, dass sie einen Werkvertrag Form eines Bauvertrags abgeschlossen hätten, die Klägerin ihre vertraglich geschuldeten Werkleistungen erbracht habe und infolge getätigter Abschlagszahlungen gem. § 641 Abs.1 S.1 BGB noch eine von der Beklagten geschuldete Vergütung in Höhe von 15.385,78 € nach Stellung einer Schlussrechnung sowie durch Abnahme des Werkes fällig gewesen sei. Unstreitig sei ebenso, dass seitens der Beklagten in Bezug auf jene Schlussrechnung eine skontogeminderte Zahlung in Höhe von 14.924,20 € auf das Konto eines Dritten erfolgt sei. Allerdings sei durch diese Zahlung der Anspruch der Klägerin auf verbleibende Vergütung ihrer Leistung nicht gem. § 362 BGB erloschen. Die Beklagte habe gegen die Klägerin auch keinen Schadensersatzanspruch wegen Verletzung einer Nebenpflicht gem. §§ 280 Abs. 1, 241 Abs. 2 BGB in der auf das Drittkonto getätigten Überweisungshöhe von 14.924,20 €, den sie der Klageforderung als dolo-agit-Einwendung gem. § 242 BGB entgegenhalten könnte. Der Umstand, dass eine Manipulation der in Frage stehenden Rechnung durch einen Dritten vorgenommen worden sei, begründe keine Nebenpflichtverletzung der Klägerin aus ihrem Werkvertrag mit der Beklagten.
Die Berufung der Beklagten hat Erfolg und führt zur Abweisung der Klage. Zwischen den Parteien ist unstreitig ein Werkvertrag in Form eines Bauvertrages zustande gekommen. Die Klägerin hat ihre vertraglich geschuldeten Werkleistungen erbracht und infolge getätigter Abschlagszahlungen war gem. § 641 Abs.1 S.1 BGB noch eine Vergütung in Höhe von 15.385,78 € nach Stellung einer Schlussrechnung am 26.09.2022 von der Beklagten geschuldet, sowie nach Abnahme des Werkes am 12.01.2023 fällig. Unstreitig ist ebenso, dass seitens der Beklagten in Bezug auf jene Schlussrechnung eine skonto-geminderte Zahlung in Höhe von 14.924,20 € auf das Konto eines Dritten erfolgt ist. Allerdings ist die Forderung der Klägerin dadurch nicht erfüllt im Sinne von § 362 Abs. 2 BGB. Für die Erfüllungswirkung bei Zahlung an einen Dritten genügt es gerade nicht, dass der Schuldner nur gutgläubig meint, auf ein Konto des Gläubigers zu zahlen. Dies hat das Landgericht zu Recht betont. Die Leistung an einen Dritten hat vielmehr nur dann erfüllende Wirkung, wenn dieser tatsächlich vom Gläubiger rechtsgeschäftlich ermächtigt ist, die Leistung im eigenen Namen in Empfang zu nehmen oder der Gläubiger dem Schuldner nach §§ 362 Abs. 2, 185 BGB die Ermächtigung erteilt, die Leistung an einen Dritten zu erbringen. Die Leistung an einen nichtberechtigten Dritten - wie hier wegen der Manipulation der Kontodaten - erlangt hingegen grundsätzlich erst dann erfüllende Wirkung, wenn der nicht empfangsbefugte Dritte die Leistung entsprechend den Weisungen des Schuldners an den Gläubiger weiterleitet oder der Gläubiger die Leistungserbringung an den Dritten ausdrücklich oder schlüssig genehmigt. Diese Voraussetzungen sind unstreitig nicht gegeben.
Anders als das Landgericht meint, steht der Beklagten allerdings ein Schadensersatzanspruch in Höhe der auf das Drittkonto getätigten Überweisung des streitgegenständlichen Betrags zu, den die Beklagte der Klagforderung unter dem Gesichtspunkt der dolo-agit-Einwendung gemäß § 242 BGB entgegenhalten kann. Ein solcher Anspruch resultiert jedenfalls aus Art. 82 DSGVO. Die DSGVO verlangt von Unternehmen, sensible Daten gegen Datenschutzverletzungen zu sichern. Sensible Daten sind z.B. personenbezogene Daten, die übertragen, gespeichert oder anderweitig verarbeitet werden. Als Datenschutzverletzungen werden versehentliche oder unrechtmäßige Zerstörung, Verlust, Veränderung, unbefugte Offenlegung oder Zugriff auf personenbezogene Daten definiert. Um solche Sicherheitsvorfälle zu vermeiden, werden Unternehmen dazu angehalten, geeignete technische und organisatorische Maßnahmen zu ergreifen, um die sichere Verarbeitung personenbezogener Daten zu gewährleisten. Nach Art. 82 Abs. 1 DSGVO hat „jede Person, der wegen eines Verstoßes gegen diese Verordnung ein materieller oder immaterieller Schaden entstanden ist, (...) Anspruch auf Schadenersatz gegen den Verantwortlichen oder gegen den Auftragsverarbeiter“. Art. 82 Abs. 1 DSGVO eröffnet einen direkten eigenen deliktischen Schadensersatzanspruch mit Verschuldensvermutung, wobei der Verantwortliche nach Abs. 3 den Entlastungsbeweis führen kann.
Der Anwendungsbereich der DSGVO ist in zeitlicher, sachlicher und räumlicher Hinsicht eröffnet. Gemäß Art. 2 Abs. 1 DSGVO gilt diese für die ganz oder teilweise automatisierte Verarbeitung personenbezogener Daten sowie für die nichtautomatisierte Verarbeitung personenbezogener Daten, die in einem Dateisystem gespeichert sind oder gespeichert werden sollen. Personenbezogene Daten sind Daten, über die sich ein konkreter Personenbezug herstellen lässt. Demnach geht es um Daten, die konkreten Personen zuzuordnen sind. Die in der streitgegenständlichen E-Mail als Anhang enthaltenen Angaben zur Beklagten (Name, Anschrift, Kunde der Klägerin, offene Rechnung über eine Werkleistung) sind personenbezogene Daten iSv. Art. 4 Nr. 1 DSGVO. Die Versendung der Rechnung mit den enthaltenen Daten per E-Mail an die Beklagte stellt eine Verarbeitung im Sinne von Art. 4 Nr. 2 DSGVO dar ("Offenlegung durch Übermittlung, Verbreitung oder eine andere Form der Bereitstellung"). Die Beklagte ist für den geltend gemachten Anspruch aktivlegitimiert. Denn anspruchsberechtigt ist nach Art. 82 Abs. 1 DSGVO jede Person, der wegen eines Verstoßes gegen die DSGVO ein Schaden entstanden ist. Die Klägerin ist als Verantwortliche iSv. Art. 4 Nr. 7 DSGVO passivlegitimiert iSv. Art. 82 Abs. 1 DSGVO. Im Übrigen hat Art. 82 Abs. 2 DSGVO drei Voraussetzungen für die Entstehung eines Schadensersatzanspruchs, nämlich
- erstens eine Verarbeitung personenbezogener Daten unter schuldhaftem Verstoß gegen die Bestimmungen der DSGVO,
- zweitens einen der betroffenen Person entstandenen Schaden und
- drittens einen Kausalzusammenhang zwischen der rechtswidrigen Verarbeitung und diesem Schaden (vgl. EuGH, Urteil v. 25.01.2024 – C-687/21, juris Rn. 58; EuGH, Urteil v. 04.05.2023 – C-300/21 -, juris Rn. 36).
1. Die Klägerin hat - anders als das Landgericht meint – im Zuge der Verarbeitung der personenbezogenen Daten der Beklagen bei Versand der streitgegenständlichen E-Mail mit Anhang gegen die Grundsätze der Art. 5, 24 und 32 DSGVO verstoßen. Der Verantwortliche hat die Verpflichtung, darzulegen und zu beweisen, dass die von ihm getroffenen Sicherheitsmaßnahmen geeignet waren, um die personenbezogenen Daten entsprechend dem von der Datenschutzgrundverordnung verlangten Sicherheitsniveau vor dem Zugriff Unbefugter zu schützen. Das ist der Klägerin vorliegend nicht gelungen, da der Senat die verwendete Transportverschlüsselung (in Form von SMTP über TLS) nicht für ausreichend und damit auch nicht für „geeignet“ im Sinne der Datenschutzgrundverordnung hält. Nach Ansicht des Senats ist eine Transportverschlüsselung beim Versand von geschäftlichen E-Mails mit personenbezogenen Daten zwischen Unternehmer und Kunden jedenfalls bei dem hier bestehenden hohen finanziellen Risiko durch Verfälschung der angehängten Rechnung der Klägerin für den Kunden nicht ausreichend und kann keinen „geeigneten“ Schutz im Sinne der DSGVO darstellen. Vielmehr ist die End-to-End-Verschlüsselung zurzeit das Mittel der Wahl. Der Senat verkennt dabei nicht, dass die End-to-End-Verschlüsselung für ein Unternehmen wie die Klägerin einen gewissen technischen Aufwand erfordert, der sich möglicherweise nicht darauf beschränkt, in dem benutzten Standardmail-Programm lediglich eine Aktivierung vorzunehmen. Vielmehr dürfte hier vielfach eine technische Beratung und der Einsatz von gesonderten Programmen erforderlich sein. Dies ändert aber die an die Verschlüsselung von geschäftlichen E-Mails mit angehängten Rechnungen zu stellenden Anforderungen nicht. Angesichts der allgemein bekannten Hackermöglichkeiten, des gerichtsbekannt rasanten Anstiegs von Hackerangriffen und den im Einzelfall weitreichenden finanziellen Folgen für den einzelnen Kunden, dessen Rechnung verfälscht wird und der selbst keinen Einfluss auf die Verarbeitung seiner Daten hat, ist daher auch von einem kleineren Unternehmen – wie der Klägerin als mittelständischem Handwerksbetrieb – zu erwarten, dass es sich zum Schutz der Daten seiner Kunden zu computertechnischen Sicherheitsanforderungen informiert und sich diesbezüglich beraten, fortbilden und mit der notwendigen Software ausstatten lässt. Dass einer End-to-End-Verschlüsselung im konkreten Fall technische, organisatorische und/oder finanzielle Hindernisse im Weg gestanden hätten, hat die Klägerin nach entsprechendem Hinweis des Senats in der mündlichen Verhandlung, welche Schutzmaßnahmen er erwarte, nicht vorgetragen.
Die Klägerin trifft auch ein Verschulden. Gemäß Art. 82 Abs. 3 DSGVO wird der Anspruchsverpflichtete von der Haftung befreit, wenn er in keinerlei Hinsicht für den schadensverursachenden Umstand verantwortlich ist. Verantwortung ist dabei das Verschulden im Sinne der deutschen Rechtsterminologie und nicht die datenschutzrechtliche Verantwortung. Das Verschulden wird nach dem Wortlaut der Norm grundsätzlich vermutet. Um die Feststellung treffen zu können, der Verantwortliche sei "in keinerlei Hinsicht" verantwortlich, hat dieser nachzuweisen, dass er alle Sorgfaltspflichten erfüllt hat und ihm damit nicht die geringste Fahrlässigkeit vorgeworfen werden kann. Diesen Nachweis hat die Klägerin nicht zu führen vermocht. Ihr ist insofern der Vorwurf eines unzureichenden Schutzniveaus für den Versand von E-Mails mit personenbezogenen Daten – insbesondere mit der hier angehängten Rechnung - zu machen.
2. Der Beklagten ist unstreitig ein Schaden entstanden, der in dem mangels Erfüllung erneut zu zahlenden Werklohn liegt.
3. Dieser von der Beklagten geltend gemachte Schaden ist auch eine kausale Folge des Verstoßes gegen die Datenschutzgrundverordnung. Da die Klägerin bei Versand ihrer E-Mail mit der angehängten Rechnung kein ausreichendes Schutzniveau zur Sicherung der personenbezogenen Daten der Beklagten eingehalten hat, obliegt ihr der Beweis dafür, dass der der Beklagten entstandene Schaden nicht durch ihr Fehlverhalten entstanden ist (EuGH, Urteil v. 14.12.2023 – C-340/21, juris Rn. 72). Dies ist ihr nicht gelungen. Unstreitig ist bei der von der Klägerin (maximal) verwendeten Transportverschlüsselung ein Zugriff durch unbefugte Dritte auf ihrem Computer, ihrem Server oder auf weiteren Servern ohne Weiteres möglich; die E-Mail ist definitionsgemäß nur auf dem Transport verschlüsselt. Einen Beweis dafür, dass im konkreten Fall der Zugriff nicht im Bereich der Klägerin, sondern erst im Bereich der Beklagten erfolgt ist, hat die Klägerin nicht angeboten.
C. Kontext der Entscheidung
Nur scheinbar im Widerspruch zu der Entscheidung des OLG Schleswig steht ein Urteil des OLG Karlsruhe, das in einem vergleichbaren Fall der beklagten GmbH, der gegenüber die klagende GmbH die Kaufpreisforderung aus einem KfZ-Kaufvertrag geltend machte, keinen Schadensersatzanspruch gem. § 280 Abs. 1, § 241 Abs. 2 BGB in Höhe einer der auf das Drittkonto getätigten Überweisung zugesprochen hat, den sie der Klageforderung unter dem Gesichtspunkt der dolo-agit-Einwendung gem. § 242 BGB entgegenhalten könnte (OLG Karlsruhe, Urteil vom 27. Juli 2023 – 19 U 83/22 –, Rn. 27). Auch das OLG Karlsruhe geht davon aus, dass der Verstoß des Gläubigers einer Geldforderung gegen von ihm geschuldete Sicherheitsvorkehrungen im Zusammenhang mit dem Versand einer geschäftlichen E-Mail, der dazu führt, dass der Schuldner der Forderung den geschuldeten Geldbetrag auf das Konto eines deliktisch handelnden Dritten überweist, nicht zum Erlöschen der Forderung gemäß § 362 BGB führt, sondern allenfalls einen Schadensersatzanspruch des Schuldners begründet, den dieser gemäß § 242 BGB der Forderung entgegenhalten kann. Im konkreten Fall hat das OLG Karlsruhe jedoch eine Pflichtverletzung der Klägerin verneint, weil sie zu einer Ende-zu-Ende-Verschlüsselung oder Transportverschlüsselung ihrer Rechnungsmail nicht verpflichtet gewesen sei. Konkrete gesetzliche Vorgaben für Sicherheitsvorkehrungen beim Versand von E-Mails im geschäftlichen Verkehr gebe es nicht; insbesondere ist der sachliche Anwendungsbereich der Datenschutz-Grundverordnung im Streitfall nicht eröffnet, da diese nur für die Verarbeitung von Informationen gilt, die sich auf eine natürliche Person beziehen (Art. 2 Abs. 1, Art. 4 Nr. 1 DSGVO). Auch eine ausdrückliche Vereinbarung zwischen den Parteien ist insoweit nicht erfolgt; insbesondere hat die Beklagte, von der die Initiative dafür ausging, dass die Rechnung überhaupt per E-Mail verschickt wurde, anlässlich der Äußerung ihrer entsprechenden Bitte in der E-Mail ihres Geschäftsführers keinerlei Sicherheitsvorkehrungen, die sie für erforderlich halte, ausdrücklich erwähnt. Welches Maß an Sicherheitsvorkehrungen von der Klägerin zu fordern war, bestimme sich daher nach den berechtigten Sicherheitserwartungen des Verkehrs unter Berücksichtigung der Zumutbarkeit (OLG Karlsruhe, Urteil vom 27. Juli 2023 – 19 U 83/22 –, Rn. 33). Die Entscheidung hebt die Eigenverantwortung des Rechnungsempfängers dahin gehend hervor, offensichtliche Unregelmäßigkeiten in der Kommunikation zu erkennen und darauf angemessen zu reagieren (Ferner, jurisPR-ITR 2/2025 Anm. 6), so selbst der Mitverschuldenseinwand sehr nahe liegt.
D. Auswirkungen für die Praxis
Soweit ein hoher Standard zum Schutz der personenbezogenen Daten beim Versand von E-Mails mit angehängten Rechnungen nicht sichergestellt werden kann, bleibt für ein Unternehmen – ohne dass hierfür größerer technischer und/oder finanzieller Aufwand betrieben werden müsste – wie eh und je der Versand von Rechnungen per Post das Mittel der Wahl (Schleswig-Holsteinisches Oberlandesgericht, Urteil vom 18. Dezember 2024 – 12 U 9/24 –, Rn. 93). Dies gilt vor allem für an Verbraucher erteilte Rechnungen. Mit dem Wachstumschancengesetz (z (BGBl. I 2024 Nr. 108) sind die Regelungen zur Ausstellung von Rechnungen nach § 14 UStG für nach dem 31. Dezember 2024 ausgeführte Umsätze neu gefasst worden. Seit dem 1. Januar 2025 ist bei Umsätzen zwischen inländischen Unternehmern regelmäßig eine elektronische Rechnung (E‑Rechnung) zu verwenden. Bei der Einführung dieser obligatorischen (verpflichtenden) E‑Rechnung gelten Übergangsregelungen. Insbesondere private Endverbraucher sind von diesen Regelungen nicht betroffen (Einzelheiten: https://www.bundesfinanzministerium.de/Content/DE/Downloads/BMF_Schreiben/Steuerarten/Umsatzsteuer/2024-10-15-einfuehrung-e-rechnung.html).
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