BGH: Zum allg. Sprachgebrauch
1. Der allgemeine Sprachgebrauch ist als allgemeiner Erfahrungssatz revisibel.
2. Es gibt keinen allgemeinen Sprachgebrauch des Inhalts, dass unter einem in einem bestimmten Jahr komplett erneuerten Dach stets nur die Erneuerung der obersten Dachschicht (hier: Bitumenbahnen) zu verstehen ist.
BGH, Urteil vom 6. Dezember 2024 – V ZR 229/23
A. Problemstellung
Ob unter einer kompletten Dacherneuerung nach allgemeinem Sprachgebrauch stets nur die Erneuerung der äußeren Dachschicht zu verstehen ist, wie das Berufungsgericht gemeint hatte, musste der V. Zivilsenat entscheiden.
B. Inhalt und Gegenstand der Entscheidung
Die Kläger erwarben von der Beklagten 2021 ein mit einem Einfamilienhaus bebautes Grundstück unter Ausschluss der Haftung für Sachmängel. In dem Maklerexposé, in dem das Haus zum Verkauf angeboten worden war, heißt es u.a. wie folgt: „Das Haus wurde 1974 errichtet. Die drei Zimmer befinden sich auf einer Ebene. (...) Das Haus befindet sich in einem sehr guten Zustand. 2009 wurde das Dach komplett erneuert, 2016 wurde das Haus von außen gedämmt und verputzt. 2018 wurde eine moderne Gasheizung (Brennwerttherme) installiert.“ Tatsächlich waren auf dem Dach im Jahr 2009 lediglich neue Bitumenbahnen verklebt und verschweißt worden. Gestützt darauf, das Dach sei 2009 nicht komplett erneuert worden, sondern befinde sich in dem Zustand, wie er bei Errichtung 1974 bestanden habe, und erfülle nicht die Richtlinien der Energieeinsparverordnung (EnEV), verlangen die Kläger von der Beklagten Ersatz der Kosten für die Erneuerung des Dachs in Höhe von 20.337,03 € netto. Das Landgericht hat der Klage stattgeben. Auf die Berufung der Beklagten hat das Oberlandesgericht die Klage insgesamt abgewiesen. Es liege kein Mangel iSd. § 434 Abs. 3 Satz 1 Nr. 2 Buchst. b) BGB vor. Das ergebe die Auslegung der Angabe in dem Exposé, das Dach sei 2009 komplett erneuert worden, gemäß §§ 133, 157 BGB anhand des allgemeinen Sprachgebrauchs. Nach dem allgemeinen Sprachgebrauch werde unter „Dach“ (nur) der Abschluss eines Gebäudes verstanden, der entweder durch eine horizontale Fläche oder durch eine mit Ziegeln oder anderem Material - wie hier Bitumen - gedeckte Konstruktion gebildet werde, bei der die Flächen in einem bestimmten Winkel zueinander stünden. Das schließe Dämmung und Unterkonstruktion nicht ein. Nach dem allgemeinen Sprachgebrauch bedeute „komplett“ vollständig. Der Begriff „erneuern“ werde im Duden mit „1. (altes, verbrauchtes) gegen neues auszuwechseln. 2. (durch Ausbessern, Auswechseln von Einzelteilen, Neuanstrich o.ä.) wiederherstellen, renovieren“ beschrieben. Das Exposé besage somit nur, dass 2009 eine Dachabdichtung vorgenommen worden sei, bei der alte Bitumenbahnen durch neue ersetzt worden seien. Gemessen daran sei von einer vollständigen Ausbesserung des Dachs durch die Beklagte auszugehen.
Der BGH hebt das Berufungsurteil auf und verweist den Rechtsstreit zurück. Mit der gegebenen Begründung kann ein Schadensersatzanspruch der Kläger gegen die Beklagte nach § 437 Nr. 3, § 281 Abs. 1 Satz 1, § 280 Abs. 1 und 3 BGB nicht verneint werden. Zutreffend ist allerdings der rechtliche Ausgangspunkt des Berufungsgerichts. Nach § 434 Abs. 1 Satz 3 BGB in der hier noch anwendbaren, bis zum 31. Dezember 2021 geltenden Fassung (nachfolgend: aF; jetzt in der Sache unverändert § 434 Abs. 3 Satz 1 Nr. 2 Buchst. b] BGB) gehören zu der Sollbeschaffenheit auch die Eigenschaften, die der Käufer nach den öffentlichen Äußerungen des Verkäufers erwarten darf, wozu auch Angaben in einem Exposé zählen. Dabei macht es keinen Unterschied, ob es sich um ein von dem Verkäufer selbst erstelltes Exposé oder um ein Maklerexposé handelt. Hier fand sich in dem Verkaufsexposé des Maklers die Angabe, dass das Dach des verkauften Hauses im Jahr 2009 komplett erneuert worden sei. Diese Beschaffenheit durften die Kläger erwarten. Rechtsfehlerhaft verneint das Berufungsgericht einen Sachmangel gemäß § 434 Abs. 1 Satz 3 BGB aF mit der Begründung, die Angabe in dem Exposé, das Dach des Hauses sei 2009 komplett erneuert worden, bedeute nach dem allgemeinen Sprachgebrauch, dass im Jahr 2009 lediglich auf der gesamten Dachfläche Bitumenbahnen verschweißt und verklebt worden seien. Die Auslegung einer Individualerklärung nach §§ 133, 157 BGB kann von dem Revisionsgericht zwar im Grundsatz nur eingeschränkt überprüft werden, nämlich darauf, ob der Tatrichter die gesetzlichen und allgemein anerkannten Auslegungsregeln, die Denkgesetze und Erfahrungssätze beachtet und die der Auslegung zugrunde gelegten Tatsachen ohne Verfahrensfehler ermittelt hat. Anders ist es aber, soweit das Tatgericht bei der Auslegung einen allgemeinen Sprachgebrauch und damit einen Erfahrungssatz im Sinne der Feststellung einer bei dem Gebrauch der deutschen Sprache allgemein bestehenden Übung zugrunde legt. Der allgemeine Sprachgebrauch ist als allgemeiner Erfahrungssatz revisibel.
Die Auslegung nach dem allgemeinen Sprachgebrauch durch das Berufungsgericht hält der uneingeschränkten revisionsrechtlichen Nachprüfung nicht stand. Es gibt keinen allgemeinen Sprachgebrauch des Inhalts, dass unter einem in einem bestimmten Jahr komplett erneuerten Dach stets nur die Erneuerung der obersten Dachschicht zu verstehen ist. Ein Sprachgebrauch mit diesem Inhalt kann dem Duden nicht entnommen werden. Das Berufungsgericht zieht insoweit die Dudeneinträge zu den Begriffen „Dach“, „komplett“ und „erneuern“ heran. Dabei übersieht es, dass in dem Duden ein „Dach“ nur ganz allgemein beschrieben wird, ohne zwischen den verschiedenen Dachtypen zu differenzieren und die möglichen Schichten des Dachaufbaus zu nennen. Dass nach dem allgemeinen Sprachgebrauch mit „Dach“ immer nur die äußere Dachschicht gemeint ist, ergibt sich daraus nicht. Dementsprechend bedeutet „komplette Erneuerung“ auch nicht allgemein die Erneuerung (nur) der obersten Dachschicht. Andere Anhaltspunkte dafür, dass sich ein allgemeiner, eindeutiger Sprachgebrauch hinsichtlich der Formulierung, ein Dach sei in einem bestimmten Jahr komplett erneuert worden, gebildet hat, sind nicht erkennbar.
Nach der Online-Enzyklopädie Wikipedia ist ein Dach „im Bauwesen eine Konstruktion, die darunterliegende Räume und Flächen nach oben hin abschließt und sie dadurch vor Sonne, Witterung und anderen von oben eindringenden Einflüssen schützt.“ Mit dieser Formulierung aus dem Bereich des Bauwesens wird nicht ein allgemeiner Sprachgebrauch wiedergegeben, sondern lediglich die Funktion eines Dachs im Allgemeinen beschrieben. In der Anlage 3 Nr. 4 zu § 9 EnEV in der zum Zeitpunkt der Sanierung des Dachs geltenden Fassung werden zwar die Begriffe „Dach“ und „Erneuerung“ verwendet. Auch hier wird die äußere Dachhaut aber nur als einer von mehreren Bestandteilen des Dachs genannt, was eher gegen den von dem Berufungsgericht zugrunde gelegten allgemeinen Sprachgebrauch spricht. Abgesehen davon gibt die EnEV aF einen technischen und nicht einen allgemeinen Sprachgebrauch wieder. Was mit einer Kompletterneuerung eines Dachs gemeint ist, kann nicht allgemein bestimmt werden, weil es für das Verständnis auf den jeweiligen Dachtyp und die jeweiligen Bestandteile (Schichten) des Dachaufbaus ankommt. Wird angegeben, dass das Dach in einem bestimmten Jahr komplett erneuert worden sei, können zudem auch die in diesem Jahr geltenden Vorschriften über die Anforderungen an eine Kompletterneuerung das Verständnis beeinflussen.
Das Berufungsurteil kann daher keinen Bestand haben. Eine eigene Sachentscheidung ist dem Senat nicht möglich; vielmehr bedarf es weiterer Feststellungen des Berufungsgerichts. Weil ein allgemeiner Sprachgebrauch hinsichtlich der Angaben der Beklagten in dem Exposé nicht besteht, kommt es für die Haftung der Beklagten nach § 437 Nr. 3, §§ 280, 281 BGB darauf an, wie ein redlicher und verständiger Käufer nach Treu und Glauben und der Verkehrssitte die Angabe in dem Exposé verstehen durfte (§§ 133, 157 BGB). Maßgeblich ist, ob nach dem Inhalt des Exposés ein durchschnittlicher Käufer eine vollständige Erneuerung des Dachs einschließlich Unterkonstruktion und Dämmung erwarten konnte. Die von dem Berufungsgericht unterlassene Auslegung aus der Sicht eines durchschnittlichen Grundstückskäufers kann der Senat nicht selbst vornehmen. Es ist nämlich unklar, um was für eine Art von Dach es sich handelt und aus welchen Schichten es aufgebaut ist. In dem Berufungsurteil wird teils von einem Faltdach gesprochen, in einem anderen Zusammenhang von einer Betondecke, dann ist wiederum von einer Dämmung die Rede. 16
C. Kontext der Entscheidung
Dass der allgemeine Sprachgebrauch revisibel ist, entspricht seit über hundert Jahren höchstrichterlicher Rechtsprechung (RG, Urteil vom 06. Dezember 1922 – V 114/22 –, RGZ 105, 417-421). Die Rechtsprechung des Reichsgerichts ist vom Bundesgerichtshof fortgeführt worden. So hat der V. Zivilsenat entschieden, dass der Begriff eines "Wohnhauses" (Wohngebäudes) nach dem allgemeinen Sprachgebrauch nicht schon dadurch beeinträchtigt wird, dass sich im Hause einzelne Geschäftsräume, auch Läden von Einzelhandelsgeschäften, befinden. Der allgemeine Sprachgebrauch ist im Sinne eines allgemeinen Erfahrungssatzes revisibel (BGH, Urteil vom 2. Mai 1956 – V ZR 157/54). Der VII. Zivilsenat hat entschieden, dass der Ausdruck "Alleinauftrag" kein im Gesetz vorkommender und deshalb revisibler Begriff ist. Jedoch kann das Revisionsgericht die Auslegung des Wortsinnes durch das Berufungsgericht stets nachprüfen (BGH, Urteil vom 17. November 1960 – VII ZR 236/59). Dem Sprachgebrauch kommt die Bedeutung eines Erfahrungssatzes, nämlich der beim Gebrauch der deutschen Sprache allgemein bestehenden Übung, zu; er unterliegt daher in vollem Umfang revisionsgerichtlicher Überprüfung (BGH, Urteil vom 30. November 1990 – V ZR 91/89 –, Rn. 18, Rn. 18 mwN.). In einer Anmerkung zu dem oben zitierten Wohnflächenurteil des V. Zivilsenats hat Quack darauf hingewiesen, dass, wenn die Auslegung von Vertragserklärungen zugunsten einer technischen Regel nicht möglich ist, die Feststellung einer Verkehrssitte zugunsten einer bestimmten technischen Regel in Betracht kommt (Quack BauR 1991, 230).
D. Auswirkungen für die Praxis
Für das weitere Verfahren vor dem Berufungsgericht erteilt der Senat mehrere Hinweise, die einem endgültigen Prozesserfolg der Kläger im Wege stehen könnten. Zunächst ist zur Auslegung der Angaben im Exposé zu klären, um welchen Dachtyp es sich handelt und aus welchen Schichten das Dach des verkauften Hauses im Jahr 2009 bestanden hat. Die Angabe „2009 wurde das Dach komplett erneuert“ ist sodann als einheitliche Formulierung auszulegen. Dabei sind auch die in dem Exposé enthaltenen Angaben zu weiteren Erneuerungsarbeiten an dem Haus, mit denen der Zustand des Hauses insgesamt als neuwertig beschrieben wird, einzubeziehen und im Gesamtzusammenhang zu würdigen (Rn. 17). Sollte die Auslegung ergeben, dass ein durchschnittlicher Käufer eines Grundstücks die Angabe in dem Exposé so verstehen durfte, dass im Jahr 2009 das gesamte Dach einschließlich Unterkonstruktion und Dämmung erneuert worden ist, bestimmte sich das zu erwartende Maß des Wärmeschutzes nach den energetischen Anforderungen der damals geltenden Vorschriften, wozu auch die EnEV gehörte. Etwas anders folgt entgegen der Ansicht des Berufungsgerichts nicht daraus, dass die EnEV in dem Exposé nicht ausdrücklich genannt worden ist. Es handelt sich nämlich nicht, wie das Berufungsgericht meint, um eine „neue Qualitätsstufe“ der Sache, sondern um zwingendes Recht, dessen grundsätzliche Einhaltung ein Käufer auch ohne besondere Hervorhebung erwarten darf (Rn. 18). Für den Fall, dass danach ein Sachmangel nach § 434 Abs. 1 Satz 3 BGB aF vorliegen sollte, wird das Berufungsgericht zu klären haben, ob die Angaben in dem Exposé der Beklagten zuzurechnen sind. Nach § 434 Abs. 1 Satz 3 Halbsatz 2 Alt. 1 BGB aF ist die öffentliche Äußerung dem Verkäufer nicht zuzurechnen, wenn dieser die Äußerung im Zeitpunkt des Vertragsschlusses nicht kannte und auch nicht kennen konnte. Angesichts der Formulierung „es sei denn“ in § 434 Abs. 1 Satz 3 BGB aF trägt nach allgemeinen Regeln derjenige die Darlegungs- und Beweislast für die Ausnahme, der sich darauf beruft; das ist der Verkäufer, also hier die Beklagte (Rn. 19). Auf den vereinbarten allgemeinen Haftungsausschluss, der auch die nach den öffentlichen Äußerungen des Verkäufers zu erwartenden Eigenschaften eines Grundstücks erfasst, kann die Beklagte sich nur dann mit Erfolg berufen, wenn sie nicht arglistig gehandelt hat (§ 444 BGB). Für die objektive und subjektive Seite der Arglist tragen zwar die Kläger die Darlegungs- und Beweislast. Ihnen kommen jedoch Beweiserleichterungen nach den Grundsätzen der sekundären Darlegungslast zugute (Rn. 20). Weiter wird das Berufungsgericht ggf. der Frage nachzugehen haben, ob die Haftung der Beklagten nach § 442 Abs. 1 Satz 1 BGB ausgeschlossen ist. Grob fahrlässige Unkenntnis steht der Kenntnis bei Arglist des Verkäufers nicht gleich (§ 442 Abs. 1 Satz 2 BGB). Insoweit ist zu berücksichtigen, dass aus dem äußeren Erscheinungsbild des Dachs bei der Besichtigung für sich genommen auf eine Kenntnis der Kläger nicht geschlossen werden kann. Voraussetzung für eine Kenntnis iSd. § 442 Abs. 1 Satz 1 BGB ist vielmehr, dass die Kläger aus dem Erscheinungsbild gefolgert haben, dass 2009 auf der Dachfläche nur Bitumenbahnen neu verlegt und verschweißt wurden (Rn. 21). Sollte sich eine Haftung der Beklagten auf Schadensersatz gemäß § 437 Nr. 3, § 280 Abs. 1 und 3, § 281 BGB dem Grunde nach ergeben, können die Kläger die Höhe des Schadens anhand der Kosten der Erneuerung des Dachs nach den voraussichtlich erforderlichen („fiktiven“) Mängelbeseitigungskosten berechnen. Insoweit weist der Senat darauf hin, dass den Klägern, anders als das Berufungsgericht meint, hinsichtlich der Höhe der Mängelbeseitigungskosten die Beweiserleichterungen des § 287 ZPO zugutekommen (Rn. 22).
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