Protokollführung durch SV

12.12.2024
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Die Übernahme der Protokollführung durch den Sachverständigen selbst ist in der ZPO nicht vorgesehen und könnte deshalb verfahrensfehlerhaft sein. Der Einwand einer unzulässigen Protokollierung im zweiten Rechtszug ist aber rechtsmissbräuchlich, wenn alle Beteiligten im erstinstanzlichen Termin damit einverstanden waren.

Schleswig-Holsteinisches Oberlandesgericht, Beschluss vom 22. Oktober 2024 – 7 U 40/24

1. Problemstellung

Es ist üblich und wird als praktikabel empfunden, dass bei mündlichen Anhörungen von Sachverständigen der Vorsitzende Richter dem Sachverständigen das Diktat seiner Ausführungen für das Protokoll überlässt (Jäckel, MDR 2024, 688 Rn. 21). Diese – auch in Bauprozessen übliche - Praxis hat ein Senat des OLG Hamm für verfahrensrechtlich unzulässig erklärt. Die Übernahme der Protokollführung über die Beweisaufnahme, konkret die Protokollierung des mündlichen Gutachtens durch den Sachverständigen selbst sei in § 159 ZPO nicht vorgesehen, daher verfahrensfehlerhaft, und könne keine Grundlage für eine instanzbeendende Entscheidung sein, so dass entweder die Beweisaufnahme in zweiter Instanz zu wiederholen oder das erstinstanzliche Urteil auf Antrag aufzuheben und das Verfahren an das Landgericht zurückzuverweisen sei (OLG Hamm, Urteil vom 19. Dezember 2023 – I-7 U 73/23). Das OLG Schleswig hatte über dieselbe Problematik zu urteilen und hat einen Weg gefunden, dem OLG Hamm nicht folgen zu müssen.

  1. Inhalt und Gegenstand der Entscheidung

In einem Unfallschadensersatzprozess war streitig, ob das Fahrzeug des Beklagten nach einer Drehung auf schneebedeckter und glatter Fahrbahn mit 20 bis 30 km/h in das Fahrzeug der Klägerin gerutscht war. Das Landgericht hat ein technisch-medizinisches Gutachten der Sachverständigen Dipl. Ing. W. und Dr. D. eingeholt. Auf Grundlage der Gutachten hat das Landgericht die Klage abgewiesen. Nach dem technischen Gutachten des Sachverständigen W. lag die kollisionsbedingte Geschwindigkeitsänderung des Klägerfahrzeugs zwischen 6 und 9 km/h. Unter Zugrundelegung einer Stoßdauer von 0,10s bis 0,15s hat der Sachverständige W. eine kollisionsbedingte Krafteinwirkung auf die Klägerin in Höhe von 1,1 bis maximal 2,7 g ermittelt. Auf dieser technischen Grundlage hat der medizinische Sachverständige Dr. D. ausgeführt, dass die Klägerin mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit keine unfallbedingte HWS-Distortion, BWS-Prellung und/oder Schulterprellung rechts erlitten habe.  

Mit der Berufung rügt die Klägerin, dass die Protokollierung vom Landgericht in unzulässiger Weise dem Sachverständigen W. übertragen worden sei. Das Berufungsgericht stellt durch Beschluss fest, dass die Berufung offensichtlich keine Aussicht auf Erfolg im Sinne von § 522 Abs. 2 ZPO hat. Zu Recht ist das Landgericht davon ausgegangen, dass die Klägerin nicht den Beweis führen konnte, dass die Voraussetzungen für den geltend gemachten Personenschaden tatsächlich erfüllt sind. Die Übernahme der Protokollführung über die Beweisaufnahme, die gemäß § 160 Abs. 3 Nr. 4 ZPO dem Protokollzwang unterliegt, durch den Sachverständigen selbst ist in der ZPO ausdrücklich nicht vorgesehen und könnte deshalb verfahrensfehlerhaft sein. In Ausnahmefällen kann allerdings das Diktat einer mündlichen Sachverständigenaussage statt vom Richter direkt vom Sachverständigen im Einverständnis aller Beteiligten durchaus praktikabel und ressourcenschonend sein. Die Beklagten haben deshalb auch auf eine durchaus abweichende Gerichtspraxis mit dem „Merkblatt für Sachverständige im Zivilprozess“ des Instituts für Sachverständigenwesen e.V. (Stand 2019) hingewiesen, wo es ausdrücklich heißt: „Der Richter kann dem Sachverständigen auch gestatten, seine gutachterlichen Äußerungen selbst in das Protokoll zu diktieren“.

Hier ist der Einwand einer unzulässigen Protokollierung gem. § 159 Abs. 1 ZPO, weil sie vom Einzelrichter dem Sachverständigen W. überlassen worden ist, jedoch zweifellos rechtsmissbräuchlich. Unstreitig waren die Klägerin und ihr Prozessbevollmächtigter im Termin persönlich anwesend. Beide haben das Diktat durch den Sachverständigen miterlebt und offensichtlich im Termin keine Bedenken geäußert. Auch in dem nachgelassenen Schriftsatz der Klägerin finden sich insoweit keine Einwände. Das Landgericht durfte deshalb vom Einverständnis aller Beteiligten ausgehen. Im Übrigen fehlt es auch an der Darlegung eines kausalen Verfahrensmangels. Die Berufung der Klägerin zeigt nicht auf, ob und ggf. welche (erheblichen) Aussagen des Sachverständigen W. tatsächlich nicht und/oder fehlerhaft in das Protokoll aufgenommen worden sind und welche Konsequenzen daraus für die richterliche Entscheidung zu ziehen wären.

  1. Kontext der Entscheidung

Die Auffassung des OLG Hamm ist nicht ohne Widerspruch geblieben. Dem OLG Hamm ist das OLG Nürnberg zu Recht entgegengetreten (OLG Nürnberg, Beschluss vom 16. Oktober 2024 – 8 U 2323/23): Die vom OLG Hamm formulierten Bedenken gegen die „Übernahme der Protokollführung über die Beweisaufnahme, konkret die Protokollierung des mündlichen Gutachtens durch den Sachverständigen selbst“ überzeugen nach weder in der Begründung noch im Ergebnis. Soweit derzeit ersichtlich, stellt die Entscheidung des OLG Hamm eine vereinzelt gebliebene obergerichtliche Meinung zu einem konkreten Einzelfall dar. Der Inhalt der Aussagen der Parteien, Zeugen und Sachverständigen kann auf zwei Wegen vorläufig aufgezeichnet werden:

a) Bei Tonaufnahme durch Diktat oder Eingabe in ein Textverarbeitungssystem sollte tunlichst der Vorsitzende den Inhalt bestimmen und dies nicht dem Urkundsbeamten übertragen. Überlässt der Vorsitzende einem Sachverständigen das Diktat seiner Aussage, ändert dies nichts an seiner Verantwortlichkeit für die Vollständigkeit und Richtigkeit der Protokollierung; gegebenenfalls muss er eingreifen.

b) Zulässig ist auch eine vollständige Aufzeichnung durch ununterbrochene Ton- oder Videoaufnahme des Vernommenen und der Fragenden. Sie bedarf keiner Zustimmung der Beteiligten und bietet einige Vorteile, ist aber nicht zwingend.

Vor diesem Hintergrund wird deutlich, dass – entgegen der vom OLG Hamm vertretenen Auffassung – auch dann ein richterliches Protokoll im Sinne der §§ 159, 160 ZPO vorliegt, wenn der Sachverständige den Wortlaut seiner Aussagen – zu Zwecken der vorläufigen Aufzeichnung – unmittelbar dem Tonträger zuführt und der dabei anwesende Richter dann später das gemäß § 160a Abs. 2 ZPO „unverzüglich“ hergestellte Protokoll ordnungsgemäß unterschreibt (vgl. § 163 Abs. 1 ZPO). Damit übernimmt der Richter die uneingeschränkte Verantwortung für den Inhalt der „Reinschrift“ des gesamten Protokolls und dies rechtfertigt dann auch dessen weitreichende Beweiskraft gemäß § 165 ZPO. Schon diese Differenzierung zwischen „vorläufiger Aufzeichnung“ und abschließender „Erstellung“ des Protokolls lässt die angeführte Entscheidung des OLG Hamm vermissen.

Es kann keinen prozessrechtlich relevanten Unterschied machen, ob der Richter Teile der vorläufigen Aufzeichnung des Sitzungsprotokolls (hier: mündliche Angaben des Sachverständigen) unmittelbar selbst in das Mikrofon des Aufzeichnungsgeräts spricht, ob er das Gerät dem Aussagenden entgegenhält und dessen Sprache unmittelbar ganz oder teilweise aufzeichnet oder ob der Richter dem Sachverständigen das Gerät übergibt mit der Bitte, selbst direkt in das Mikrofon zu sprechen. Denn in all diesen Fällen ist der Aufzeichnungsgegenstand für die im Sitzungssaal anwesenden Beteiligten unmittelbar wahrnehmbar und damit kontrollierbar. Unstimmigkeiten oder Missverständnisse über Wortlaut oder Inhalt des Aufgezeichneten können an Ort und Stelle direkt kommuniziert und geklärt werden. Die Gefahr von – entscheidungserheblichen – Unklarheiten oder Lückenhaftigkeiten wird durch diese Handhabung weder geschaffen noch vergrößert. Daher ist es verfahrensrechtlich unbedenklich, einem mündlich angehörten Sachverständigen zum Zwecke der vorläufigen Protokollaufzeichnung vorübergehend das Diktiergerät zu übergeben, wenn gewährleistet ist, dass Unstimmigkeiten oder Missverständnisse über Wortlaut und Inhalt der Aufzeichnung unmittelbar geklärt werden können.

  1. Auswirkungen für die Praxis

Dem OLG Schleswig war der nur eine Woche vorher ergangene Beschluss des OLG Nürnberg offenkundig noch nicht bekannt. Da das OLG Schleswig aber einen Weg gefunden hat, die Zulässigkeit des Diktates durch den Sachverständigen offen zu lassen, brauchte es die Revision nicht zuzulassen, wenn es dem OLG Hamm nicht folgen wollte. Ob der vom OLG Schleswig eingeschlagene Weg trägt, ist aber wiederum nicht frei von Zweifeln. Denn das OLG Hamm hat in einer weiteren (früheren) Entscheidung die Übernahme der Protokollführung durch den Sachverständigen als einen von Amts wegen zu berücksichtigenden Mangel angesehen, der auch ohne Berufungsrüge vom Gericht zu berücksichtigen ist (OLG Hamm, Urteil vom 22. August 2023 – I-7 U 112/22 –, Rn. 7). Trotzdem sollten, bis eine höchstrichterliche Klärung erfolgt, die Parteien darauf drängen, dass die Zustimmung aller Verfahrensbeteiligten in das Protokoll aufgenommen wird.

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