BGH: Zum Hinweis nach § 522 II 1 ZPO

13.8.2024
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Der nach § 522 Abs. 2 Satz 1 ZPO gebotene Hinweis auf die beabsichtigte Beschlusszurückweisung der Berufung kann im Hinblick auf den Anspruch des Berufungsklägers auf Gewährung rechtlichen Gehörs verfahrensordnungsgemäß erst nach dem Vorliegen der Berufungsgründe einschließlich etwaiger (zulässig) geltend gemachter neuer Angriffs- und Verteidigungsmittel erteilt werden.

BGH, Beschluss vom 12. Juni 2024 – XII ZR 92/22  

(OLG München, 5. September 2022, 32 U 2545/22; LG München II, 26. April 2022, 12 O 592/22)

1. Das Problem:

Die Parteien – der Kläger ist der Bruder der Geschäftsführerin der Beklagten - streiten nach einem Erbfall um die Herausgabe eines Grundstücks. Das Landgericht hat seine klagestattgebende Entscheidung am Schluss der mündlichen Verhandlung vom 26. April 2022 verkündet. Gegen das noch nicht mit Gründen versehene Urteil hat die Beklagte am 28. April 2022 „Berufung und Vollstreckungsschutzantrag“ eingelegt und beantragt, durch Vorabentscheidung das angefochtene Urteil in seinem Ausspruch zur vorläufigen Vollstreckbarkeit abzuändern und die Zwangsvollstreckung einstweilen einzustellen. Das OLG hat mit Beschluss vom 27. Mai 2022 die einstweilige Einstellung der Zwangsvollstreckung abgelehnt und mit einem im schriftlichen Verfahren erlassenen Teilurteil vom 23. Juni 2022 den Antrag auf Änderung der erstinstanzlichen Entscheidung zur vorläufigen Vollstreckbarkeit zurückgewiesen. Ebenfalls am 23. Juni 2022 hat das OLG einen Beschluss mit dem Hinweis auf die beabsichtigte Zurückweisung der Berufung als offensichtlich aussichtslos erlassen. Die Beklagte hat die Berufung mit am 24. August 2022 eingegangenen Schriftsatz innerhalb der verlängerten Berufungsbegründungsfrist begründet. Im Anschluss daran hat das Berufungsgericht am 5. September 2022 seinen Zurückweisungsbeschluss erlassen.  

2. Die Entscheidung des Gerichts:

Die Nichtzulassungsbeschwerde der Beklagten führt zur Aufhebung des angefochtenen Beschlusses und zur Zurückverweisung der Sache an das Berufungsgericht. Die Beklagte beanstandet zu Recht, dass das Berufungsgericht mit seiner Verfahrensgestaltung vor dem Erlass des Beschlusses nach § 522 Abs. 2 ZPO ihren Anspruch auf Gewährung rechtlichen Gehörs (Art. 103 Abs. 1 GG) verletzt hat. Das OLG hat seinen Hinweisbeschluss nach § 522 Abs. 2 Satz 2 ZPO zu einem Zeitpunkt erlassen, als die Berufung noch nicht begründet war. Das in der Berufungsschrift enthaltene Vorbringen der Beklagten im Vollstreckungsschutzantrag vom 28. April 2022 hat zwar in der Sache auch kursorische Angriffe gegen einzelne Punkte enthalten, die in dem noch nicht schriftlich abgesetzten landgerichtlichen Urteil mutmaßlich nicht ausreichend berücksichtigt worden sein könnten, sich im Übrigen aber auf Ausführungen zu den der Beklagten durch die Herausgabevollstreckung drohenden Nachteilen und der Unauskömmlichkeit der festgesetzten Sicherheitsleistung beschränkt. Die Begründung der Berufung hat sich die Beklagte ausdrücklich vorbehalten. Zwar enthält das Gesetz keine ausdrückliche Regelung dazu, zu welchem Zeitpunkt der Hinweis nach § 522 Abs. 2 Satz 2 ZPO zu erfolgen hat. Es ist aber evident, dass zumindest die Berufungsgründe einschließlich etwaiger (zulässig) geltend gemachter neuer Angriffs- und Verteidigungsmittel vorliegen müssen, um dem Berufungsgericht überhaupt die Beurteilung zu ermöglichen, ob dem Rechtsmittel auch eine mündliche Verhandlung offensichtlich nicht zum Erfolg verhelfen kann. Nach diesen Grundsätzen hätte das OLG die Berufung der Beklagten nicht durch Beschluss nach § 522 Abs. 2 ZPO zurückweisen dürfen, ohne der Beklagten einen (nochmaligen) Hinweis zu erteilen, wonach sich seine Einschätzung zu den Erfolgsaussichten des Rechtsmittels und zur Nichterforderlichkeit einer mündlichen Verhandlung auch nach Kenntnisnahme von den Berufungsgründen nicht verändert habe.

3. Konsequenzen für die Praxis:

Das Verfahren, in dem das Berufungsgericht zu dem Zurückweisungsbeschluss nach § 522 Abs. 2 ZPO gelangt, ist in der Vorschrift vorgezeichnet. Es findet nach Eingang der Berufungsbegründung und vor Terminierung statt, wobei Terminierung einen anschließend ergehenden Beschluss nicht hindert (Heßler in Zöller, ZPO, 35. Aufl. 2024, § 522 Rn. 31). Dass Voraussetzung für das Verfahren nach § 522 ZPO das Vorliegen der Berufungsbegründung ist, ist von der Systematik der Norm her derart offensichtlich, dass die gängigen Kommentare diese Frage nicht problematisieren. Aus der Feststellung, dass neues Vorbringen zu berücksichtigen ist, soweit dieses nach §§ 529, 531 ZPO zulässig ist (Anders/Gehle/Göertz, 82. Aufl. 2024, § 522 Rn. 27), ergibt sich jedoch, dass die Berufungsbegründung erfolgt sein muss. Der in der Instanzrechtsprechung gelegentlich vertretenen Auffassung, der Hinweis nach § 522 Abs. 2 ZPO setzte nicht nur das Vorliegen der Berufungsbegründung, sondern auch der Berufungserwiderung voraus (OLG Koblenz, Beschluss vom 20. Februar 2003 – 10 U 883/02 –, juris), hat der BGH eine Absage erteilt. Das Verfahren nach § 522 Abs. 2 ZPO setzt nach dem Wortlaut der Vorschrift nicht voraus, dass eine Berufungserwiderung eingegangen oder dem Berufungsbeklagten ergebnislos eine Frist zur Erwiderung gesetzt worden ist. Aus der Gesetzgebungsgeschichte ergibt sich nichts anderes (BGH, Urteil vom 21. November 2017 – XI ZR 106/16 –, MDR 2018, 223).

4. Beraterhinweis:

Der Anspruch auf rechtliches Gehör wird auch verletzt, wenn das Gericht eine dem Beteiligten selbst gesetzte Frist zur Äußerung auf seinen Hinweisbeschluss mit seiner Entscheidung nicht abwartet, sondern bereits vor Ablauf der Frist die Berufung zurückweist (BGH, Beschluss vom 19. November 2019 – VI ZR 215/19 –, MDR 2020, 304). Ebenfalls wird der Anspruch auf rechtliches Gehör verletzt, wenn die vor Erlass einer Entscheidung vom Gericht gesetzte Frist zur Äußerung objektiv nicht ausreicht, um innerhalb der Frist eine sachlich fundierte Äußerung zum entscheidungserheblichen Sachverhalt und zur Rechtslage zu erbringen (BGH, Beschluss vom 15. Mai 2018 – VI ZR 287/17 –, MDR 2018, 1014). Stützt ein Berufungsgericht in einem Hinweis nach § 522 Abs. 2 Satz 2 ZPO seine Rechtsauffassung auf einen Gesichtspunkt, den der Berufungskläger erkennbar übersehen oder für unerheblich gehalten hat, muss diesem Gelegenheit zur Äußerung gegeben werden. Die hierdurch veranlassten neuen Angriffs- und Verteidigungsmittel dürfen nicht zurückgewiesen werden (BGH, Beschluss vom 01. Oktober 2014 – VII ZR 28/13 –, MDR 2015, 296). Auch im Verfahren nach § 522 Abs. 2 ZPO darf der durch einen notwendigen Hinweis nach § 139 Abs. 2 Satz 1 ZPO veranlasste Vortrag einer Partei nicht als verspätet zurückgewiesen werden (BGH, Beschluss vom 24. September 2019 – MDR 2020, 55).

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