BGH: Widersprüchlicher Parteivortrag
Eine Partei ist grundsätzlich nicht gehindert, ihr Vorbringen im Laufe des Rechtsstreits zu ändern und insbesondere zu präzisieren, zu ergänzen oder zu berichtigen. Dabei entstehende Widersprüchlichkeiten im Parteivortrag können allenfalls im Rahmen der Beweiswürdigung gemäß § 286 ZPO Beachtung finden. Die Nichtberücksichtigung eines erheblichen Beweisangebots wegen vermeintlicher Widersprüche im Vortrag der beweisbelasteten Partei läuft auf eine prozessual unzulässige vorweggenommene tatrichterliche Beweiswürdigung hinaus und verstößt damit zugleich gegen Art. 103 Abs. 1 GG.
BGH, Beschluss vom 20. November 2024 – VII ZR 191/23
- Problemstellung
Ob Widersprüche im Parteivortrag das Gericht berechtigen, Beweisangebote einer Partei unberücksichtigt zu lassen, hatte der VII. Zivilsenat zu entscheiden.
- Inhalt und Gegenstand der Entscheidung
Die Klägerin fordert Restwerklohn aus einem gekündigten Einheitspreisvertrag über Bauleistungen. Mit einem Teil der Leistungen hatte sie eine Nachunternehmerin (V. GmbH) beauftragt. Nach Kündigung des Vertrags durch den Beklagten legte die Klägerin eine erste Schlussrechnung, in der sie vom Gesamtbetrag - neben Teilzahlungen - einen Bruttobetrag von 32.757,58 € mit dem Vermerk "abzgl. Restleistungen in Teilbereichen der Fa. V. GmbH" abzog. Die Klägerin hat zunächst nur den verbleibenden Betrag eingeklagt und in der Klageschrift vorgetragen, die bei der Bautenstandsfeststellung erkennbaren Minderleistungen wegen vorzeitiger Beendigung des Vertragsverhältnisses seien berücksichtigt worden. Auf den Hinweis des Landgerichts in der mündlichen Verhandlung, die Prüffähigkeit der Schlussrechnung begegne Bedenken, weil sich die abgezogenen "Restleistungen in Teilbereichen" von 32.757,58 € aus der Abrechnung und dem Aufmaß nicht erschlössen, hat die Klägerin erklärt, die abgezogenen nicht erbrachten Leistungen näher aufschlüsseln zu können. Daraufhin legte sie eine zweite Schlussrechnung, die den Abzug von 32.757,58 € nicht enthält, einen um diesen Betrag erhöhten Endbetrag ausweist und im Übrigen vollständig mit der ersten Schlussrechnung übereinstimmt. Die Klägerin hat die Klage um diesen Betrag erweitert und behauptet, die zweite Schlussrechnung entspreche nunmehr genau den vorgelegten Aufmaßprotokollen und den erbrachten Leistungen. Hierfür hat sie Beweis durch Sachverständigengutachten angeboten. Der Abzugsbetrag sei ein Nachlass der Nachunternehmerin an die Klägerin wegen der bestrittenen vollständigen Fertigstellung gewesen für den Fall, dass der Beklagte sofort auf die Schlussrechnung der Klägerin zahle. Diesen Nachlass habe die Klägerin unter der mündlichen Abrede der sofortigen Zahlung an den Beklagten weitergereicht. Nachdem dieser nicht gezahlt habe, habe sie den Nachlass aus der Schlussrechnung genommen.
Das Landgericht hat die Klage mangels prüffähiger Schlussrechnung als derzeit unbegründet abgewiesen. Die Berufung der Klägerin hat das Berufungsgericht zurückgewiesen. Es fehle an einer prüffähigen Schlussrechnung. Nach dem Vortrag in der Klageschrift habe es sich bei dem fraglichen Abzug in der ersten Schlussrechnung um einen Abzug für nicht erbrachte Leistungen gehandelt; die Klägerin hätte deshalb deutlich machen müssen, welche der in der ersten Schlussrechnung aufgeführten Leistungen nicht erbracht worden seien. Der in der Folgezeit mit Vorlage der zweiten Schlussrechnung geänderte Vortrag der Klägerin, der Abzug sei ein skontogleicher Verzicht bei schneller Zahlung gewesen, sei nicht zugrunde zu legen. Denn er stehe im diametralen Widerspruch zur Schlussrechnung der Nachunternehmerin, auf der sich der Hinweis befinde: "Abzüglich 10 % der hier angesprochenen Positionen für Restleistungen in Teilbereiche. 27.572,38 €" (Nettobetrag). Die Nachunternehmerin habe den Abzug also ausweislich ihrer Rechnung für nicht ausgeführte Leistungen vorgenommen, wie die Klägerin auch zunächst vorgetragen habe. Zwar sei es einer Partei nicht grundsätzlich verwehrt, im Laufe des Rechtsstreits ihren Vortrag zu ändern oder entgegen dem Inhalt von Urkunden vorzutragen. Jedoch sei die Klägerin für ihren bestrittenen geänderten Vortrag, der Abzug betreffe nicht fehlende Leistungen, sondern stelle ein Angebot auf Einigung bei schneller Zahlung dar, und dazu, wie es letztlich fälschlicherweise zum unberechtigten Abzug gekommen sei, beweisfällig geblieben. Bereits aus diesem Grund könne der geänderte Vortrag nicht berücksichtigt werden. Die Klägerin hätte nicht nur eine neue Schlussrechnung mit einem unter Sachverständigenbeweis gestellten Aufmaß in den Prozess einführen, sondern Beweis für ihre Behauptung führen müssen, der Abzug in der ersten Schlussrechnung sei wegen eines weitergereichten skontogleichen Nachlasses der Nachunternehmerin erfolgt, der mangels Zahlung nun wegfalle, und die abgerechneten Leistungen seien alle erbracht. Die Klägerin hätte die Nachunternehmerin beziehungsweise deren Mitarbeiter als Zeugen für die behauptete falsche Ausweisung des Abzugsbetrages in deren Schlussrechnung und daraus folgend in der ersten klägerischen Schlussrechnung anbieten können. Im Rahmen dieser Beweisaufnahme hätte geklärt werden können, ob die Nachunternehmerin alle Arbeiten ausgeführt habe oder nicht. Die streitige Frage der Ausführung der Arbeiten könne allein durch ein Aufmaß nicht geklärt werden, weshalb dieser Beweisantritt unzureichend gewesen sei.
Die Nichtzulassungsbeschwerde hat Erfolg und führt zur Zurückverweisung der Sache an das Berufungsgericht. Das Berufungsgericht verletzt den Anspruch der Klägerin auf Gewährung rechtlichen Gehörs, indem es wegen Widerspruchs zu früherem Vortrag den bestrittenen Vortrag zur zweiten Schlussrechnung, es seien nur erbrachte Leistungen enthalten, für unbeachtlich hält, einen Beweis für den behaupteten Grund des Vortragswechsels fordert und das Beweisangebot der Klägerin zum neuen Vortrag übergeht. Eine Partei ist grundsätzlich nicht gehindert, ihr Vorbringen im Laufe des Rechtsstreits zu ändern und insbesondere zu präzisieren, zu ergänzen oder zu berichtigen. Dabei entstehende Widersprüchlichkeiten im Parteivortrag können allenfalls im Rahmen der Beweiswürdigung gemäß § 286 ZPO Beachtung finden. Die Nichtberücksichtigung eines erheblichen Beweisangebots wegen vermeintlicher Widersprüche im Vortrag der beweisbelasteten Partei läuft auf eine prozessual unzulässige vorweggenommene tatrichterliche Beweiswürdigung hinaus und verstößt damit zugleich gegen Art. 103 Abs. 1 GG. Hieran gemessen hat das Berufungsgericht den Anspruch der Klägerin auf Gewährung rechtlichen Gehörs verletzt, indem es für den von seinem Rechtsstandpunkt aus entscheidungserheblichen bestrittenen Vortrag der Klägerin, die zweite Schlussrechnung umfasse nur erbrachte Leistungen, den angebotenen Beweis durch Einholung eines Sachverständigengutachtens übergangen hat. Das Gericht muss aber, auch wenn es in einem solchen Vortrag einen Widerspruch zu früherem Vortrag sieht, dem angebotenen Beweis nachgehen und kann den Widerspruch sowie den Vortragswechsel erst im Rahmen der Beweiswürdigung berücksichtigen. Es darf demgegenüber nicht zunächst eine Beweisführung für die behaupteten Gründe des Vortragswechsels verlangen und den angebotenen Beweis für den neuen Vortrag - mangels Beweisangebots für die behaupteten Gründe des Vortragswechsels - übergehen. Soweit das Berufungsgericht den Beweisantritt für unzureichend gehalten hat, weil die streitige Frage der Ausführung der Arbeiten allein durch ein Aufmaß nicht geklärt werden könne, übersieht es, dass der Beweisantritt der Klägerin neben dem Aufmaß ein Sachverständigengutachten umfasst. Die Gehörsverletzung ist entscheidungserheblich. Es kann nicht ausgeschlossen werden, dass das Berufungsgericht die Prüffähigkeit der zweiten Schlussrechnung und möglicherweise auch deren Berechtigung bejaht hätte, wenn es den zur zweiten Schlussrechnung gehaltenen Vortrag nicht für unbeachtlich gehalten und den - jedenfalls für die Frage der Berechtigung der Schlussrechnung erheblichen - angebotenen Beweis, es seien nur erbrachte Leistungen abgerechnet, nicht übergangen hätte.
- Kontext der Entscheidung
Ein Sachvortrag ist schlüssig und ausreichend substantiiert, wenn die vorgetragenen Tatsachen in Verbindung mit einem Rechtssatz geeignet sind, das geltend gemachte Recht zu begründen. Genügt das Parteivorbringen diesen Anforderungen an die Substantiierung, kann der Vortrag weiterer Einzeltatsachen nicht verlangt werden; es ist dann Sache des Tatrichters, bei der Beweisaufnahme Einzelheiten zu klären, die für ihn im Rahmen der Beweiswürdigung nach § 286 Abs. 1 ZPO erforderlich erscheinen (BGH, Beschluss vom 23. November 2023 – V ZR 170/22 ). Im Interesse der Wahrung des Grundrechts aus Art. 103 Abs. 1 GG darf das Gericht keine überspannten Anforderungen an die Darlegung stellen. Vermag sich eine Partei an ein Geschehen nicht zu erinnern, kann sie dazu gleichwohl eine ihr günstige Behauptung unter Zeugenbeweis stellen, wenn sie hinreichende Anhaltspunkte dafür vorträgt, dass der Zeuge das notwendige Wissen hat. Ob und inwieweit der Zeuge in der Lage ist, sich zu erinnern, ist erst durch die Vernehmung des Zeugen und die daran anschließende Würdigung seiner Aussage zu klären. Der Grad der Wahrscheinlichkeit der Sachverhaltsschilderung der Partei ist ohne Bedeutung. Die Angabe näherer Einzelheiten ist nicht erforderlich, soweit diese für die Rechtsfolgen nicht von Bedeutung sind. Das Gericht muss nur in die Lage versetzt werden, aufgrund des tatsächlichen Vorbringens der Partei zu entscheiden, ob die gesetzlichen Voraussetzungen für das Bestehen des geltend gemachten Rechts vorliegen. Sind diese Anforderungen erfüllt, muss das Gericht in die Beweisaufnahme eintreten und dabei ggf. die benannten Zeugen oder die zu vernehmende Partei nach weiteren Einzelheiten befragen oder einem Sachverständigen die beweiserheblichen Streitfragen unterbreiten (BGH, Beschl. v. 14.03.2017 - VI ZR 225/16). Ein Beweisantritt für erhebliche, nicht willkürlich ins Blaue hinein aufgestellte Tatsachen darf nur dann unberücksichtigt bleiben, wenn das angebotene Beweismittel ungeeignet ist, weil es im Einzelfall zur Beweisbehauptung erkennbar keine sachdienlichen Ergebnisse erbringen kann, oder wenn die unter Beweis gestellte Tatsache so ungenau bezeichnet ist, dass ihre Erheblichkeit nicht beurteilt werden kann (BGH, Beschl. v. 01.06.2005 - XII ZR 275/02). Der Beweisführer ist grundsätzlich nicht gehindert, Tatsachen zu behaupten, über die er keine genauen Kenntnisse hat, die er aber nach Lage der Dinge für wahrscheinlich hält; ein unzulässiger Ausforschungsbeweis liegt erst dann vor, wenn der Beweisführer ohne greifbare Anhaltspunkte für das Vorliegen eines bestimmten Sachverhalts willkürlich Behauptungen „aufs Geratewohl“ oder „ins Blaue hinein“ aufstellt (BGH, Urt. v. 08.05.2012 - XI ZR 262/10). Durch ein Bestreiten des Beklagten mit Nichtwissen erhöhen sich die Substantiierungsanforderungen für den Kläger nicht; es führt allein dazu, dass die mit Nichtwissen bestrittene Behauptung beweisbedürftig wird (BGH, Beschl. v. 25.09.2018 - VI ZR 234/17).
- Auswirkungen für die Praxis
Im Prozessrecht findet sich keine Grundlage, Parteivortrag nur deshalb unberücksichtigt zu lassen, weil er im Widerspruch zu vorangegangenem, ausdrücklich aufgegebenem Vortrag steht (BGH, Beschl. v. 24.07.2018 - VI ZR 599/16). Eine Prozesspartei ist nicht gehindert, ihr Vorbringen im Laufe des Rechtsstreits zu ändern, insbesondere zu präzisieren, zu ergänzen oder zu berichtigen. So kann etwa die Prozessentwicklung Anlass geben, bisher nur beiläufig Vorgetragenes zu präzisieren (BGH, Urt. v. 05.07.1995 – KZR 15/94). Allein der Umstand, dass eine Partei ihren Vortrag ändert, rechtfertigt es nicht, von der Erhebung angebotener Beweise abzusehen. Darin liegt eine vorweggenommene Beweiswürdigung, die im Prozessrecht keine Stütze findet (BGH, Beschl. v. 29.08. 2018 – VII ZR 195/14). Hat eine Partei im Laufe des Prozesses ihr Vorbringen geändert, so kann dieser Umstand allerdings im Rahmen der Beweiswürdigung Bedeutung erlangen. Dasselbe kann für die Bewertung streitigen Vorbringens einer Partei in einem Rechtsstreit gelten, wenn diese in einem Vorprozess abweichend vorgetragen hat (BGH, Urt. v. 05.11.2015 – I ZR 50/14).
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