BGH: Nachträgliche Zulassung der Berufung

10.10.2024
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Die nachträgliche Zulassung der Berufung aufgrund einer Anhörungsrüge gemäß § 321a ZPO ist ausnahmsweise zulässig, wenn das Verfahren aufgrund eines Gehörsverstoßes gemäß § 321a Abs. 5 ZPO fortgesetzt wird und sich erst aus dem anschließend gewährten rechtlichen Gehör ein Grund für die Zulassung ergibt, oder wenn das Erstgericht bei seiner ursprünglichen Entscheidung über die Nichtzulassung der Berufung bezogen auf die Zulassungsentscheidung das rechtliche Gehör des späteren Berufungsklägers verletzt hat.

BGH, Beschluss vom 30. Juli 2024 – VI ZB 115/21

  1. Problemstellung

Unter welchen Voraussetzungen ein Gericht aufgrund einer Anhörungsrüge nachträglich die Berufung gegen ein wegen nicht ausreichender Beschwer nicht berufungsfähiges Urteil zulassen kann, hatte der VI. Zivilsenat zu entscheiden.

  1. Inhalt und Gegenstand der Entscheidung

Der Pkw des Klägers wurde bei einem Verkehrsunfall beschädigt. Die volle Haftung des Beklagten dem Grunde nach steht außer Streit. Der Kläger ließ das Fahrzeug reparieren. Die Rechnung weist die Position "Schutzmittel Corona" mit 15 € (netto) aus, zudem werden dort "Schutzmaßnahmen Corona" erwähnt. Der Beklagte regulierte die Rechnung abzüglich eines Betrages von 76,21 €. Mit seiner Klage macht der Kläger den Restbetrag von 76,21 € geltend, welchen er mit 58,81 € den "Schutzmaßnahmen Corona" und 17,40 € dem "Schutzmaterial Corona" zuordnet. Das Amtsgericht hat angeordnet, dass gemäß § 495a ZPO im vereinfachten Verfahren ohne mündliche Verhandlung schriftlich entschieden werden soll. Auf Antrag müsse mündlich verhandelt werden. Die beklagte Partei erhalte eine Frist, innerhalb von zwei Wochen ab Zustellung schriftlich zu dem Vorbringen der Gegenseite Stellung zu nehmen. Eine Entscheidung, insbesondere auch ein Endurteil, gegen das ein Rechtsmittel von Gesetzes wegen nicht möglich sei, § 511 Abs. 2 Nr. 1 ZPO, ergehe nach Ablauf gesetzter und gegebenenfalls noch zu setzender Fristen im vereinfachten Verfahren von Amts wegen ohne Bestimmung eines Verkündungstermins. Mit Urteil vom 12. April 2021 hat das Amtsgericht im vereinfachten Verfahren gemäß § 495a ZPO ohne mündliche Verhandlung ein Urteil erlassen und die Klage abgewiesen. Die Berufung hat es nicht zugelassen und dazu ausgeführt, dass die Rechtssache keine grundsätzliche Bedeutung habe und auch die Fortbildung des Rechts oder die Sicherung einer einheitlichen Rechtsprechung eine Entscheidung des Berufungsgerichts nicht erforderlich machten. Auf die Anhörungsrüge des Klägers hat das Amtsgericht mit Beschluss vom 1. Juni 2021 der Gehörsrüge abgeholfen und angeordnet, dass das Verfahren fortgesetzt werde. Aufgrund der abweichenden Entscheidungen innerhalb des Amtsgerichts zu den in Rede stehenden Rechtsfragen solle im Sinne der Sicherung einer einheitlichen Rechtsprechung die Berufung zugelassen werden. Es sei beabsichtigt, das Verfahren erneut durch Urteil zu entscheiden, dieses solle inhaltlich nur insoweit von dem ersten Urteil abweichen, als die Berufung zugelassen werde. Die Parteien erhielten Gelegenheit zur Stellungnahme. Mit Urteil vom 30. Juli 2021 hat das Amtsgericht die Klage abgewiesen und die Berufung zugelassen. Gegen dieses Urteil hat der Kläger Berufung eingelegt und diese auch fristgerecht begründet. Das Berufungsgericht hat die Berufung nach vorausgehendem Hinweis an den Kläger als unzulässig verworfen, da die auf die Anhörungsrüge hin ausgesprochene Zulassung der Berufung die Kammer nicht binde, weil sie unter Verstoß gegen die Bindung des Amtsgerichts aus § 318 ZPO erfolgt und unwirksam sei.  

Die Rechtsbeschwerde des Klägers ist unzulässig. Gemäß § 511 Abs. 2 ZPO ist die Berufung nur zulässig, wenn der Wert des Beschwerdegegenstandes 600 € übersteigt oder das Gericht des ersten Rechtszuges die Berufung im Urteil zugelassen hatte. Das Landgericht ist hier zu Recht zu dem Ergebnis gekommen, dass es bei dem Wert des Beschwerdegegenstandes von 76,21 € an einer wirksamen Zulassung der Berufung durch das Amtsgericht fehlt. Gemäß § 511 Abs. 4 Satz 2 ZPO ist das Berufungsgericht grundsätzlich an die Zulassung der Berufung auch dann gebunden, wenn die seitens des Erstgerichts für maßgeblich erachteten Zulassungsgründe aus seiner Sicht nicht vorliegen. Durfte die Zulassung dagegen verfahrensrechtlich überhaupt nicht ausgesprochen werden, ist sie unwirksam. Das gilt auch für eine prozessual nicht vorgesehene nachträgliche Zulassungsentscheidung, die die Bindung des Gerichts an seine eigene Endentscheidung gemäß § 318 ZPO außer Kraft setzen würde. Eine nachträgliche Zulassung der Berufung kann jedoch ausnahmsweise auf eine zulässige und begründete Anhörungsrüge nach § 321a ZPO erfolgen, wenn bei der vorangegangenen Entscheidung, die Berufung nicht zuzulassen, ein Verstoß gegen den Anspruch auf rechtliches Gehör vorgelegen hat. Die Anhörungsrüge stellt einen gesetzlich geregelten Rechtsbehelf eigener Art dar, durch den das Gericht von der Bindungswirkung des § 318 ZPO sowie von der formellen und materiellen Rechtskraft freigestellt wird. Das Rechtsmittelgericht ist jedoch nicht an die Begründung des unteren Gerichts gebunden, sondern hat dessen Entscheidung, aufgrund einer Anhörungsrüge das Verfahren fortzuführen, darauf zu überprüfen, ob die Anhörungsrüge statthaft, zulässig und begründet war. Bei dieser Prüfung ist das Berufungsgericht zu Recht zu dem Ergebnis gekommen, dass das Amtsgericht seine bewusste Entscheidung, die Berufung nicht zuzulassen, verfahrensfehlerhaft aufgrund einer Anhörungsrüge gemäß § 321a ZPO geändert hat.

Die Anhörungsrüge des Klägers war zwar gemäß § 321a Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 ZPO statthaft, weil die Berufungssumme des § 511 Abs. 2 Nr. 1 ZPO nicht erreicht wurde und das Amtsgericht die Berufung zunächst nicht zugelassen hatte. Auch hat der Kläger die Anhörungsrüge fristgerecht erhoben und eine Verletzung seines Anspruchs auf Gewährung rechtlichen Gehörs ausgeführt. Zu Recht hat das Berufungsgericht aber die Anhörungsrüge des Klägers nicht für begründet erachtet. Die Anhörungsrüge räumt dem Gericht keine umfassende Abhilfemöglichkeit ein, sondern dient allein der Behebung von Verstößen gegen die grundgesetzliche Garantie des rechtlichen Gehörs. Die unterbliebene Zulassung der Berufung kann für sich genommen den Anspruch auf rechtliches Gehör nicht verletzen, es sei denn, auf die Zulassungsentscheidung bezogener Vortrag der Beteiligten wurde verfahrensfehlerhaft übergangen. Art. 103 Abs. 1 GG soll sichern, dass die Entscheidung frei von Verfahrensfehlern ergeht, die auf mangelnder Kenntnisnahme oder Erwägung des Vortrags beruhen. Sein Schutzbereich ist auf das von dem Gericht einzuhaltende Verfahren, nicht aber auf die Kontrolle der Entscheidung in der Sache gerichtet. Eine nachträgliche Zulassung der Berufung aufgrund einer Anhörungsrüge gemäß § 321a ZPO ist deshalb nur dann ausnahmsweise zulässig, wenn das Verfahren aufgrund eines Gehörsverstoßes gemäß § 321a Abs. 5 ZPO fortgesetzt wird und sich erst aus dem anschließend gewährten rechtlichen Gehör ein Grund für die Zulassung ergibt oder wenn das Erstgericht bei seiner ursprünglichen Entscheidung über die Nichtzulassung der Berufung bezogen auf die Zulassungsentscheidung das rechtliche Gehör des späteren Berufungsklägers verletzt hat. An letzterem fehlt es hier.  

Anders als der Kläger meint, handelt es sich bei dem Urteil des Amtsgerichtes ohne Zulassung der Berufung vom 12. April 2021 nicht um eine gegen Art. 103 Abs. 1 GG verstoßende Überraschungsentscheidung. Eine solche liegt vor, wenn sich eine Entscheidung ohne vorherigen richterlichen Hinweis auf einen Gesichtspunkt stützt, mit dem auch ein gewissenhafter und kundiger Prozessbeteiligter nicht zu rechnen braucht. Das Amtsgericht hat aber nicht gegen seine Hinweispflichten verstoßen. Es hat die Parteien vielmehr darauf hingewiesen, dass es im Verfahren nach § 495a ZPO entscheiden werde, dass für eine mündliche Verhandlung ein Antrag erforderlich sei und eine Entscheidung ergehen könne, gegen die es kein Rechtsmittel gebe. Für einen gewissenhaften und kundigen Prozessbeteiligten war daraus ersichtlich, dass die Nichtzulassung der Berufung sehr wahrscheinlich ist, ohne dass das Amtsgericht ausdrücklich darauf hinweisen musste, dass es im konkreten Fall die Berufung nicht zulassen werde. Bereits die Entscheidung für ein Verfahren nach § 495a ZPO ohne mündliche Verhandlung musste ein deutliches Signal für den gewissenhaften Prozessbeteiligten sein, dass das Amtsgericht im Streitfall weder von einer grundsätzlichen Bedeutung noch der Notwendigkeit der Rechtsmittelzulassung zur Sicherung der Einheitlichkeit der Rechtsprechung oder zur Fortbildung des Rechts ausgehen würde. Dies musste auch für den Kläger auf der Hand liegen, da auch die von ihm vorgelegten amtsgerichtlichen Entscheidungen zu Corona-Schutzmaßnahmen bzw. Desinfektionskosten überwiegend im Verfahren nach § 495a ZPO ohne Zulassung der Berufung ergangen waren. Der Beschluss vom 18. Januar 2021 enthielt weiter den Hinweis, dass ein Urteil ergehen könnte, gegen das ein Rechtsmittel von Gesetzes wegen nicht möglich ist.    

Das Berufungsgericht hat auch zu Recht angenommen, dass das Amtsgericht bei seinem ersten Urteil keinen auf die Zulassungsentscheidung bezogenen Vortrag der Parteien verfahrensfehlerhaft übergangen hat. Der Kläger hat bis zu diesem Urteil die aus seiner Sicht notwendige Zulassung der Berufung an keiner Stelle thematisiert. Er hat allerdings bereits in der Klageschrift seinen Rechtsstandpunkt zur Erforderlichkeit von Corona-Schutzmaßnahmen und deren Ersatzfähigkeit dargelegt und insbesondere auch eine insoweit zusprechende Entscheidung des AG München referiert. Er hat weitere zusprechende amtsgerichtliche Entscheidungen benannt und die Rechtsgrundsätze des BGH zum Werkstattrisiko referiert. Er hat in seiner Replik erneut zu den Positionen "Schutzmaßnahmen Corona" und "Schutzmaterial Corona" zusprechende amtsgerichtliche Entscheidungen benannt. Mit seiner Entscheidung hat das Amtsgericht diesen Vortrag des Klägers aber nicht übergangen, sondern lediglich nicht alle gebotenen rechtlichen Schlüsse gezogen. Das Amtsgericht hat sich nämlich mit den vom Kläger aufgeworfenen Fragen zu der Erforderlichkeit der Corona-Schutzmaßnahmen und der Erstattungspflichtigkeit der diesbezüglichen Kosten ausdrücklich befasst, seine Klageabweisung mit von der Rechtsauffassung des Klägers abweichenden Rechtsstandpunkten begründet und seinerseits für diese eine amtsgerichtliche und eine landgerichtliche Entscheidung angeführt. Ob diese Rechtsauffassung zutreffend war, ist für die Frage nach einer Gehörsverletzung dabei ohne Belang. Dass das Amtsgericht die - gebotene - Zulassung der Berufung zur Sicherung einer einheitlichen Rechtsprechung erst auf die Anhörungsrüge des Klägers erwogen hat, stellt hier als solches keinen Gehörsverstoß, sondern einen einfachen Verfahrensfehler dar.

  1. Kontext der Entscheidung

Der Senat bestätigt seine bisherige Rechtsprechung. Danach kann eine nachträgliche Zulassung der Berufung ausnahmsweise auf eine zulässige und begründete Anhörungsrüge nach § 321a ZPO erfolgen, wenn bei der vorangegangenen Entscheidung, die Berufung nicht zuzulassen, ein Verstoß gegen den Anspruch auf rechtliches Gehör vorgelegen hat. Denn die Anhörungsrüge stellt einen gesetzlich geregelten Rechtsbehelf eigener Art dar, durch den das Gericht von der Bindungswirkung des § 318 ZPO sowie von der formellen und materiellen Rechtskraft freigestellt wird. Das Rechtsmittelgericht ist jedoch nicht an die Begründung des unteren Gerichts gebunden, sondern hat dessen Entscheidung, aufgrund einer Anhörungsrüge das Verfahren fortzuführen, darauf zu überprüfen, ob die Anhörungsrüge statthaft, zulässig und begründet war (BGH, Urteil vom 7. Februar 2023 – VI ZR 137/22 –, Rn. 19). Eine prozessual nicht vorgesehene nachträgliche Zulassungsentscheidung ist jedoch unwirksam, weil sie die Bindung des Gerichts an seine eigene Entscheidung (§ 318 ZPO) außer Kraft setzen würde. Dies gilt auch, wenn das Beschwerdegericht seine Entscheidung, die Rechtsbeschwerde nicht zuzulassen, verfahrensfehlerhaft aufgrund einer Anhörungsrüge nach § 321a ZPO ändert. Die Anhörungsrüge räumt dem Gericht keine umfassende Abhilfemöglichkeit ein, sondern dient allein der Behebung von Verstößen gegen die grundgesetzliche Garantie des rechtlichen Gehörs. Die unterbliebene Zulassung der Rechtsbeschwerde als solche kann den rechtlichen Anspruch auf rechtliches Gehör nicht verletzen, es sei denn, auf die Zulassungsentscheidung bezogener Vortrag der Parteien ist verfahrensfehlerhaft übergangen worden. Art. 103 Abs. 1 GG soll sichern, dass die Entscheidung frei von Verfahrensfehlern ergeht, die auf mangelnder Kenntnisnahme oder Erwägung des Sachvortrags beruhen. Sein Schutzbereich ist auf das von dem Gericht einzuhaltende Verfahren, nicht aber auf die Kontrolle der Entscheidung in der Sache gerichtet (BGH, Beschluss vom 13. Mai 2020 – VII ZB 41/19 –, Rn. 13 - 14).

  1. Auswirkungen für die Praxis

Der Kläger hätte nach der Einleitung des Verfahrens nach § 495a ZPO den im Gesetz vorgesehenen Antrag auf mündliche Verhandlung stellen müssen (§ 495a Satz 2 ZPO). Dadurch, dass er dies unterlassen hat, sondern sich passiv verhalten hat, hat er sich um die Möglichkeit gebracht, das Gericht von der Zulassung der Berufung zu überzeugen. Vergleichbar ist die Konstellation, dass der Rechtsbeschwerdeführer es im Rahmen des vorinstanzlichen Rechtsmittels versäumt hat, auf einen Hinweisbeschluss des Gerichts hin eine Grundrechtsverletzung zu verhindern. Dies führt zur Unzulässigkeit der Rechtsbeschwerde wegen Verletzung des Subsidiaritätsgrundsatzes, der fordert, dass ein Beteiligter über das Gebot der Erschöpfung des Rechtswegs im engeren Sinne hinaus alle nach Lage der Sache zur Verfügung stehenden prozessualen Möglichkeiten ergreifen muss, um eine Korrektur der geltend gemachten Grundrechtsverletzung zu erwirken oder eine solche zu verhindern. Dieser Grundsatz ist nicht auf das Verhältnis zwischen Verfassungs- und Fachgerichtsbarkeit beschränkt, sondern gilt auch im Nichtzulassungsbeschwerde- und Revisionsverfahren. Denn einer Revision kommt bei der Verletzung von Verfahrensgrundrechten auch die Funktion zu, präsumtiv erfolgreiche Verfassungsbeschwerden vermeidbar zu machen. Daher sind für ihre Beurteilung die gleichen Voraussetzungen maßgebend, die nach der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts zum Erfolg einer Verfassungsbeschwerde führten (BGH, Beschluss vom 30. Juli 2024 – VI ZB 30/22 –, Rn. 12).

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