BGH: Keine Partei-Ermittlungspflicht
Eine Partei verstößt gegen ihre Prozessförderungspflicht, wenn sie Vorbringen aus prozesstaktischen Erwägungen zurückhält. Eine Verpflichtung, tatsächliche Umstände, die der Partei nicht bekannt sind, erst zu ermitteln, ist daraus jedoch grundsätzlich nicht abzuleiten.
BGH, Beschluss vom 19. November 2024 – VI ZR 35/23
A. Problemstellung
Der VI. Zivilsenat hatte in einem Arzthaftungsprozess u.a. zu entscheiden, ob eine Partei verpflichtet ist, tatsächliche Umstände, die ihr nicht bekannt sind, zu ermitteln.
B. Inhalt und Gegenstand der Entscheidung
Die Klägerin begehrt Schadensersatz nach einem Facelifting. Nach mehreren Beratungsterminen fand am 24. März 2019 zwischen den Parteien ein Aufklärungsgespräch streitigen Inhalts statt. Am 25. März 2019 nahm der Beklagte bei der Klägerin ein Facelifting nach der von ihm propagierten "X"-Methode vor. Die Klägerin, die sich bereits mehrere Jahre zuvor einer Schönheitsoperation im Gesicht unterzogen hatte, zahlte hierfür 20.000 €. Sie macht geltend, der Eingriff des Beklagten sei fehlgeschlagen, die Mundwinkel hingen nun nach unten, die Proportionen des Gesichts stimmten nicht mehr. Das bei dem Eingriff eingespritzte Fett habe sich verlagert. Über dem linken Auge befinde sich ein deutlicher Hautüberschuss, im Schläfenbereich befänden sich erkennbare Narben. Sie hätte auch darüber aufgeklärt werden müssen, dass kein Anlass für die Operation bestanden habe. Das Landgericht hat die Klage nach Einholung eines Sachverständigengutachtens, dessen mündlicher Erläuterung und Anhörung der Parteien abgewiesen. Mit ihrer Berufung hat die Klägerin weiter geltend gemacht, es sei übersehen worden, dass es sich bei der vom Beklagten angewandten Methode um eine Neulandmethode handele, die dazu führe, dass eine Revision nicht möglich oder sehr erschwert sei, wie sie erst nach der Anhörung des Sachverständigen erfahren habe. Der Eingriff sei allein schon deshalb behandlungsfehlerhaft gewesen. Es sei auch aufklärungspflichtig gewesen, dass eine Revision nun nicht mehr möglich sei und ein langfristiges Ergebnis mit der Methode nicht habe erzielt werden können. Das Oberlandesgericht hat die Berufung mit Beschluss gemäß § 522 Abs. 2 ZPO zurückgewiesen.
Die Nichtzulassungsbeschwerde der Klägerin hat Erfolg. Der angefochtene Beschluss beruht auf einer Verletzung des Anspruchs der Klägerin auf Gewährung rechtlichen Gehörs aus Art. 103 Abs. 1 GG. Das Berufungsgericht hat zur Begründung seiner Entscheidung insbesondere ausgeführt, der Eingriff sei nicht schon wegen der verwendeten Methode von vornherein behandlungsfehlerhaft. Soweit die Klägerin vortrage, dass durch die Methode Revisionsmöglichkeiten gemindert oder ausgeschlossen würden, begründe dies keinen Behandlungsfehler, allenfalls könne es sich um einen aufklärungspflichtigen Umstand handeln. Die Aufklärung sei ebenfalls nicht zu beanstanden. Die Behauptung der Klägerin, dass Revisionen nicht möglich seien, habe die Beweisaufnahme nicht bestätigt. Soweit die Klägerin den Sachverständigen hierzu noch ergänzend hätte befragen wollen, hätte sie eine Schriftsatzfrist zur Anhörung beantragen müssen. Soweit es sich um neuen Vortrag in der Berufungsinstanz handle, lägen die Voraussetzungen für eine Zulassung des neuen Vorbringens nach § 531 Abs. 2 ZPO nicht vor. Die Nichtzulassungsbeschwerde rügt zu Recht, dass das Berufungsgericht den Vortrag der Klägerin in der Berufungsbegründung, dass sie am 25. März 2022 und am 14. Juni 2022 von den Ärzten Dr. A. und Dr. M. erfahren habe, dass und weshalb die vom Beklagten angewandte Methode dem Patienten die Möglichkeit eines weiteren Facelifts oder eines Revisionseingriffs nehme, und wozu sie diese als Zeugen benannt und eine ergänzenden Anhörung des Sachverständigen beantragt habe, als gemäß § 531 Abs. 2 ZPO unzulässig behandelt und ihr vorgehalten hat, sie hätte eine Schriftsatzfrist zur Anhörung des Sachverständigen beantragen müssen. Sie rügt auch mit Erfolg, dass das Berufungsgericht die Aufklärung durch den Beklagten mit der Begründung nicht beanstandet hat, die Beweisaufnahme habe die Behauptung, dass Revisionen nicht möglich seien, nicht bestätigt.
Art. 103 Abs. 1 GG ist dann verletzt, wenn der Tatrichter Angriffs- und Verteidigungsmittel einer Partei in offenkundig fehlerhafter Anwendung einer Präklusionsvorschrift zu Unrecht für ausgeschlossen erachtet hat. Das ist hier der Fall. Die Voraussetzungen für die Zurückweisung des dargestellten Sachvortrags der Klägerin nach § 531 Abs. 2 ZPO lagen offenkundig nicht vor. Nach § 531 Abs. 2 Satz 1 Nr. 3 ZPO sind neue Angriffsmittel zuzulassen, wenn sie im ersten Rechtszug nicht geltend gemacht worden sind, ohne dass dies auf einer Nachlässigkeit der Partei beruht. Der Klägerin kann Nachlässigkeit in diesem Sinne nicht vorgeworfen werden. Dass die Methode des Beklagten weitere Facelifts oder Revisionseingriffe verhindere und darüber aufzuklären gewesen wäre, ist zugunsten der Klägerin zu unterstellen, da das Berufungsgericht dazu keine Feststellungen getroffen hat. Die Klägerin hat den oben dargestellten Vortrag bereits in der Berufungsbegründung gehalten und unter Beweisantritt vorgebracht, dass sie diese Informationen erst nach der Verkündung des landgerichtlichen Urteils erhalten habe. Wenn die Klägerin die Kenntnis dieser Umstände erst nach Abschluss des Verfahrens in erster Instanz, also auch erst nach der Anhörung des Sachverständigen, erlangt hat, kann ihr nicht angelastet werden, diesen dazu nicht befragt oder nicht ein Schriftsatzrecht beantragt und hierzu erst im Berufungsverfahren vorgetragen zu haben. Der Klägerin ist auch nicht vorzuwerfen, dass sie sich nicht um eine frühere Kenntnis dieser Umstände bemüht hat. Nachlässigkeit iSv. § 531 Abs. 2 Satz 1 Nr. 3 ZPO liegt nur dann vor, wenn die Partei gegen ihre Prozessförderungspflicht verstoßen hat. Die Parteien sind aufgrund dieser Pflicht zu konzentrierter Verfahrensführung gehalten. Insbesondere dürfen sie Vorbringen grundsätzlich nicht aus prozesstaktischen Erwägungen zurückhalten. Eine Verpflichtung, tatsächliche Umstände, die der Partei nicht bekannt sind, erst zu ermitteln, ist daraus jedoch grundsätzlich nicht abzuleiten. Der Patient ist auch nicht verpflichtet, sich zur ordnungsgemäßen Prozessführung medizinisches Fachwissen anzueignen. Danach konnte der Klägerin auch nicht angelastet werden, sich nicht schon während des landgerichtlichen Verfahrens hinsichtlich weiterer Bedenken gegen die angewandte Methode bei Fachleuten informiert zu haben.
Die Entscheidung erweist sich auch nicht als im Ergebnis richtig, weil - wie das Berufungsgericht ausgeführt hat - die Beweisaufnahme die Behauptung, dass Revisionen nicht möglich seien, nicht bestätigt hätte. Diese nicht begründete Beurteilung beruht nämlich wiederum auf einer Verletzung des rechtlichen Gehörs der Klägerin, die unter Beweisantritt in der Berufungsbegründung vorgetragen hatte, dass dem Patienten durch diese Methode eine etwaige Revisionsmöglichkeit genommen werde. Das Berufungsgericht ist aber zu dieser Behauptung in eine Beweisaufnahme nicht eingetreten. Dass sich der Sachverständige zu diesem konkreten, von der Klägerin erstmals in der Berufungsbegründung angesprochenen Umstand bereits in seinem schriftlichen Gutachten oder bei seiner Anhörung vor dem Landgericht verhalten hätte, legt das Berufungsgericht nicht dar. Die Gehörsverstöße sind entscheidungserheblich. Es kann nicht ausgeschlossen werden, dass das Berufungsgericht unter Berücksichtigung des Vortrages und gegebenenfalls nach Anhörung des Sachverständigen und Vernehmung der Zeugen zu einer anderen Beurteilung gelangt wäre.
C. Kontext der Entscheidung
Nach ständiger Rechtsprechung aller Zivilsenate des BGH verpflichtet das Gebot rechtlichen Gehörs das Gericht dazu, den wesentlichen Kern des Vorbringens der Partei zu erfassen und - soweit er eine zentrale Frage des jeweiligen Verfahrens betrifft - in den Gründen zu bescheiden. Von einer Verletzung dieser Pflicht ist auszugehen, wenn die Begründung der Entscheidung des Gerichts nur den Schluss zulässt, dass sie auf einer allenfalls den äußeren Wortlaut, aber nicht den Sinn des Vortrags der Partei erfassenden Wahrnehmung beruht. Art. 103 Abs. 1 GG ist verletzt, wenn der Tatrichter Angriffs- oder Verteidigungsmittel einer Partei in offenkundig fehlerhafter Anwendung einer Präklusionsvorschrift zu Unrecht für ausgeschlossen erachtet (BGH, Beschluss vom 12. November 2024 – VI ZR 361/23, mwN.). So erlaubt § 531 Abs. 2 Nr. 3 ZPO die Zulassung neuer Angriffs- und Verteidigungsmittel, die im ersten Rechtszug nicht geltend gemacht worden sind, ohne dass dies auf einer Nachlässigkeit der Partei beruht. Nachlässig handelt eine Partei, wenn sie die tatsächlichen Umstände nicht vorbringt, deren Relevanz für den Rechtsstreit ihr bekannt sind oder bei Aufwendung der gebotenen Sorgfalt hätten bekannt sein müssen und zu deren Geltendmachung sie im ersten Rechtszug imstande ist (Wulf in: BeckOK ZPO, 54. Edition (Stand: 01.09.2024) § 531 Rn. 19, mwN.). Zwar reicht für eine Nachlässigkeit auch einfache Fahrlässigkeit aus; allerdings dürfen an die Informations- und Substantiierungslast der Partei keine zu hohen Anforderungen gestellt werden. Grundsätzlich müssen der Partei die Umstände bekannt sein. Es besteht keine Verpflichtung, unbekannte tatsächliche Umstände zu ermitteln. Insbesondere in Artzhaftungsverfahren muss sich eine Partei kein medizinisches Fachwissen aneignen. Der Grundsatz, dass in einem Arzthaftungsprozess an die Substantiierungspflicht des Klägers nur maßvolle Anforderungen gestellt werden dürfen, gilt auch für Einwendungen gegen ein gerichtliches Gutachten. Die Partei ist nicht verpflichtet, bereits in erster Instanz ihre Einwendungen gegen das Gerichtsgutachten auf die Beifügung eines Privatgutachtens oder auf sachverständigen Rat zu stützen oder selbst oder durch Dritte in medizinischen Bibliotheken Recherchen anzustellen, um Einwendungen gegen ein gerichtliches Sachverständigengutachten zu formulieren. Sie ist durchaus berechtigt, ihre Einwendungen zunächst ohne solche Hilfe vorzubringen (BGH, Urteil vom 8. Juni 2004 – VI ZR 199/03 –, Rn. 27, mwN.).
D. Auswirkungen für die Praxis
Der Senat hält ausdrücklich fest, dass der Geltendmachung eines Gehörsverstoßes der Grundsatz der materiellen Subsidiarität nicht entgegensteht, nachdem die Klägerin in ihrer Stellungnahme zum Hinweisbeschluss auf den ungeklärten Gesichtspunkt der Geeignetheit der angewandten Methode und die aus ihrer Sicht erforderliche ergänzende Anhörung des Sachverständigen ausdrücklich hingewiesen hat (BGH, Beschluss vom 19. November 2024 – VI ZR 35/23 –, Rn. 13). Nach dem Grundsatz der materiellen Subsidiarität muss ein Beteiligter die nach Lage der Sache gegebenen prozessualen Möglichkeiten ausschöpfen, um eine Korrektur der geltend gemachten Grundrechtsverletzung zu erwirken oder eine Grundrechtsverletzung zu verhindern. Diese Würdigung entspricht dem in § 295 ZPO zum Ausdruck kommenden Rechtsgedanken, nach dessen Inhalt eine Partei eine Gehörsverletzung nicht mehr rügen kann, wenn sie die ihr nach Erkennen des Verstoßes verbliebene Möglichkeit zu einer Äußerung nicht genutzt hat (BGH, Beschluss vom 26. September 2017 – VI ZR 81/17 –, Rn. 8, mwN.). Eine auf die Verletzung des Grundrechts auf Gewährung wirkungsvollen Rechtsschutzes gestützte Rechtsbeschwerde ist daher unzulässig, wenn es der Beschwerdeführer im Rahmen des vorinstanzlichen Rechtsmittels versäumt hat, eine Korrektur der geltend gemachten Grundrechtsverletzung zu erwirken oder eine Grundrechtsverletzung zu verhindern (BGH, Beschluss vom 30. Juli 2024 – VI ZB 30/22 –, mwN.).
Kontakt
aufnehmen
Vereinbaren Sie gerne ein persönliches Beratungsgespräch mit uns,
Telefon: 0511 9999 4747 oder E-Mail: kanzlei@addlegal.de.
Telefonisch erreichen Sie uns von Montag bis Freitag
in der Zeit zwischen 8:00 Uhr und 18:00 Uhr.