BGH: Anscheinsbeweis für beratungsgerechtes Verhalten

24.9.2024
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Fehlt es an einer abschließenden höchstrichterlichen Klärung der für die Erfolgsaussichten einer Rechtsverfolgung maßgeblichen Frage, setzt eine zum Eingreifen des Anscheinsbeweises für ein beratungsgerechtes Verhalten des rechtsschutzversicherten Mandanten führende objektive Aussichtslosigkeit der Rechtsverfolgung voraus, dass die Beurteilung der Erfolgsaussichten aus der maßgeblichen Sicht ex ante in jeder Hinsicht unzweifelhaft war.

BGH, Urteil vom 16. Mai 2024 – IX ZR 38/23 

  1. Problemstellung

Welche Auswirkungen die Deckungszusage des Rechtsschutzversicherers seines Mandanten auf den Regressanspruch gegen den Rechtsanwalt wegen Führung eines aussichtlosen Prozesses hat, musste der u.a. für die Anwaltshaftung zuständige IX. Zivilsenat (erneut) entscheiden.

  1. Inhalt und Gegenstand der Entscheidung

Die Klägerin, ein Rechtsschutzversicherer, nimmt den beklagten Rechtsanwalt aus übergegangenem Recht von neun ihrer Versicherungsnehmer auf Ersatz eines Kostenschadens in Anspruch. Der Schaden soll dadurch verursacht worden sein, dass der Beklagte für die Versicherungsnehmer von vornherein aussichtslose Rechtsstreitigkeiten geführt habe. Die Versicherungsnehmer der Klägerin beteiligten sich im Jahr 2004 zum Zwecke der Kapitalanlage an der J. GmbH & Co. KG. Gründungskommanditistin der J. war die T. Die Versicherungsnehmer schlossen mit der T. einen Treuhandvertrag, aufgrund dessen diese zusätzlich zu ihrem eigenen Anteil weitere Kommanditanteile als Treuhänderin für die Versicherungsnehmer hielt. Bei der T. handelte es sich um eine Steuerberatungsgesellschaft; sie unterhielt deshalb eine Berufshaftpflichtversicherung. Deren Versicherungsbedingungen sahen Versicherungsschutz (auch) für eine Tätigkeit der T. als "nicht geschäftsführender Treuhänder" vor. Von der Deckung ausgeschlossen waren Haftpflichtansprüche aus Verstößen im Bereich des unternehmerischen Risikos. Die Beteiligungen der Versicherungsnehmer der Klägerin entwickelten sich nicht wie erwartet. Nachdem das Insolvenzverfahren über das Vermögen der T. eröffnet worden war, gab der Insolvenzverwalter den Deckungsanspruch der T. gegen deren Vermögensschadenhaftpflichtversicherer wegen möglicher Schadensersatzansprüche der Anleger gegen die T. aus der Masse frei. Die Versicherungsnehmer der Klägerin beauftragten den Beklagten mit der Prüfung eines Vorgehens gegen den Vermögensschadenhaftpflichtversicherer. Die Rechtsverfolgung blieb in allen Fällen erfolglos.    

In zwei Urteilen vom 9. Juli 2013 nahm der II. Zivilsenat des BGH bezüglich anderer Fondsgesellschaften eine Haftung der T. gegenüber Anlegern unter dem Gesichtspunkt der Prospekthaftung im weiteren Sinne an (BGH, Urteil vom 9. Juli 2013 – II ZR 193/11; BGH, Urteil vom 9. Juli 2013 – II ZR 9/12). Die T. sei im Verhältnis zu den Anlegern als Altgesellschafterin anzusehen, deren Stellung sich nicht in dem treuhänderischen Halten von Beteiligungen der Treugeber erschöpft habe. Haftungserleichterungen für rein kapitalistische Anleger kämen ihr deshalb nicht zugute. Sie hafte unabhängig von ihrer Stellung als Treuhandkommanditistin auch als "normale" Gesellschafterin (dazu: Stuhlmann, jurisPR-HaGesR 1/2014 Anm. 3). Die Klägerin stützt ihre Schadensersatzansprüche auf die ihren Versicherungsnehmern durch eine (weitere) Rechtsverfolgung nach dem 9. Juli 2013 entstandenen Kostenschäden und verlangt von dem Beklagten Ersatz der von ihr aufgrund der erteilten Deckungszusagen in den Ausgangsverfahren erstatteten Kosten der Rechtsverfolgung. Sie wirft dem Beklagten vor, nicht pflichtgemäß über die (fehlenden) Erfolgsaussichten der Rechtsverfolgung aufgeklärt zu haben. Das Landgericht hat die Klage abgewiesen. Die Berufung der Klägerin hat ganz überwiegend Erfolg gehabt. Die Mandanten des Beklagten hätten im Falle einer zutreffenden Aufklärung über die Erfolgsaussichten von der Rechtsverfolgung abgesehen, so dass der geltend gemachte Kostenschaden nicht entstanden wäre. Für die insoweit beweisbelastete Klägerin streite ein Anscheinsbeweis, den der Beklagte nicht zu erschüttern vermocht habe. Die Rechtsverfolgung sei objektiv aussichtslos gewesen. Der in den Ausgangsverfahren streitgegenständliche Deckungsanspruch habe derart eindeutig nicht bestanden, dass jegliche Erfolgsaussicht eines rechtlichen Vorgehens gegen den Vermögensschadenhaftpflichtversicherer zu verneinen gewesen sei.

Die Revision des Beklagten hat Erfolg. Sie führt zur Wiederherstellung des erstinstanzlichen Urteils. Rechtsfehlerhaft ist die Feststellung des Berufungsgerichts, die Versicherungsnehmer der Klägerin hätten sich im Falle zutreffender Rechtsberatung gegen eine (weitere) Rechtsverfolgung entschieden. Die Frage, wie sich der Mandant bei vertragsgerechter Belehrung durch den rechtlichen Berater verhalten hätte, zählt zur haftungsausfüllenden Kausalität, die der Anspruchsteller nach dem Maßstab des § 287 ZPO zu beweisen hat. Zu Gunsten des Anspruchstellers ist jedoch zu vermuten, der Mandant wäre bei pflichtgemäßer Beratung den Hinweisen des Rechtsanwalts gefolgt, sofern im Falle sachgerechter Aufklärung aus der Sicht eines vernünftig urteilenden Mandanten eindeutig eine bestimmte tatsächliche Reaktion nahegelegen hätte. Eine solche Vermutung kommt hingegen nicht in Betracht, wenn nicht nur eine einzige verständige Entschlussmöglichkeit bestanden hätte, sondern nach pflichtgemäßer Beratung verschiedene Handlungsweisen ernsthaft in Betracht gekommen wären, die unterschiedliche Vorteile und Risiken in sich geborgen hätten. Greift die Vermutung beratungsgerechten Verhaltens ein, so liegt hierin keine Beweislastumkehr, sondern ein Anscheinsbeweis, der durch den Nachweis von Tatsachen entkräftet werden kann, die für ein atypisches Verhalten des Mandanten im Falle pflichtgemäßer Beratung sprechen. Der Anscheinsbeweis setzt voraus, dass ein Sachverhalt feststeht, auf dessen Grundlage die Schlussfolgerung gerechtfertigt ist, dass der Mandant bei zutreffender Beratung von einer Rechtsverfolgung abgesehen hätte. Ausgangspunkt ist die allgemeine Lebenserfahrung. Dies kann angesichts der Interessen eines rechtsschutzversicherten Mandanten, mit Hilfe seiner Rechtsschutzversicherung von Kostenrisiken befreit zu werden, erst dann bejaht werden, wenn das Ergebnis der rechtlichen Beurteilung in jeder Hinsicht unzweifelhaft ist. Die Annahme der Aussichtslosigkeit unterliegt hohen Anforderungen. Die Rechtsverfolgung muss aus der maßgeblichen Sicht ex ante aus tatsächlichen oder rechtlichen Gründen objektiv aussichtslos gewesen sein. Dies kommt etwa in Betracht, wenn eine streitentscheidende Rechtsfrage höchstrichterlich abschließend geklärt ist. Regelmäßig ist dies dann der Fall, wenn eine einschlägige Entscheidung ergangen ist. Auch dann können aber im Schrifttum geäußerte Bedenken, mit denen sich die Rechtsprechung noch nicht auseinandergesetzt hat, Veranlassung zu der Annahme geben, die Rechtsprechung werde noch einmal überdacht. Die niemals auszuschließende Möglichkeit einer zugunsten des Mandanten ergehenden Fehlentscheidung vermag die Aussichtslosigkeit der Rechtsverfolgung indes nicht auszuschließen. Geht es um die Beurteilung materiell-rechtlicher Fragen, muss klar sein, welcher Sachverhalt der rechtlichen Beurteilung im jeweils maßgeblichen Zeitpunkt der Beratung zugrunde zu legen ist. Fehlt es an einer höchstrichterlichen Klärung, muss sich der Sachverhalt zudem derart unter Rechtsvorschriften subsumieren lassen, dass das Ergebnis einer Auslegung unter keinem rechtlichen Gesichtspunkt zweifelhaft sein kann. Eine Rechtsverfolgung kann auch in tatsächlicher Hinsicht objektiv aussichtslos sein. Das kommt in Betracht, wenn der dem Mandanten ohne jeden Zweifel obliegenden Darlegungs- und Beweislast offenkundig nicht genügt werden kann.    

Diese Grundsätze hat das Berufungsgericht verkannt. Die Voraussetzungen des Anscheinsbeweises bei einwandfrei erteilter Deckungszusage sind nicht aufgrund einer höchstrichterlich geklärten Rechtslage gegeben. Die Frage des Deckungsanspruchs gegen den Vermögensschadenhaftpflichtversicherer der T. wegen Haftungsansprüchen gegenüber Anlegern der J. war höchstrichterlich nicht abschließend geklärt. Der II. Zivilsenat des BGH hatte mit beiden Urteilen vom 9. Juli 2013 nur über eine Haftung der T. gegenüber Anlegern entschieden, nicht über den hier maßgeblichen Deckungsanspruch der T. gegenüber dem Vermögensschadenhaftpflichtversicherer. Der IV. Zivilsenat hatte in einer Parallelsache über eine Nichtzulassungsbeschwerde entschieden und diese für unzulässig gehalten (BGH, Beschluss vom 24. Juni 2015 – IV ZR 248/14). Lediglich nicht tragend und ohne nähere Begründung hatte er bemerkt, dass die Nichtzulassungsbeschwerde auch unbegründet wäre, weil es an einem Zulassungsgrund fehlte. Das führte selbst dann nicht zu einer höchstrichterlichen Klärung der (einfachrechtlichen) Erfolgsaussichten der Rechtsverfolgung, wenn die Nichtzulassungsbeschwerde als unbegründet zurückgewiesen worden wäre. Die Zurückweisung einer Nichtzulassungsbeschwerde als unbegründet besagt im Ausgangspunkt nur, dass es an einem Zulassungsgrund fehlt, nicht aber, dass die Entscheidung des Berufungsgerichts einfachrechtlich richtig ist.  

Ebenso wenig sind die Voraussetzungen für das Eingreifen eines Anscheinsbeweises bei einwandfrei erteilter Deckungszusage für den Fall einer fehlenden höchstrichterlichen Klärung gegeben. Insoweit stellt das Berufungsgericht rechtsfehlerhaft zu geringe Anforderungen an das Eingreifen des Anscheinsbeweises. Im Streitfall geht es um die materiell-rechtliche Beurteilung des Deckungsschutzes aus einer Vermögensschadenhaftpflichtversicherung anhand der dem Versicherungsvertrag zugrundeliegenden Bedingungen. Ob der Sachverhalt, insbesondere die vom Berufungsgericht für maßgeblich gehaltene Beteiligung der T. an der J. auch als Gründungskommanditistin in den maßgeblichen Zeitpunkten der Beratung der Versicherungsnehmer hinreichend klar war, ist nicht festgestellt. Selbst wenn man davon ausgeht, dass dies so war, wäre die Rechtsverfolgung nicht objektiv aussichtslos gewesen. Der Deckungsschutz bemaß sich nach den in den Vertrag über die Vermögensschadenhaftpflichtversicherung einbezogenen Bedingungen. Diese waren im Blick auf die Auswirkungen der Beteiligung der T. als Gründungskommanditistin auf den Deckungsschutz für Haftpflichtansprüche aus der Tätigkeit als Treuhandkommanditistin auslegungsbedürftig. Das Ergebnis der Auslegung war nicht unter jedem rechtlichen Gesichtspunkt unzweifelhaft. Aus der maßgeblichen Sicht ex ante und unter Berücksichtigung der für die Auslegung allgemeiner Versicherungsbedingungen maßgeblichen Grundsätze erschien es jedenfalls nicht unvertretbar, von einem Deckungsschutz für Haftpflichtansprüche aus der Tätigkeit der T. als Treuhandkommanditistin auszugehen. Auf die ungewissen Erfolgsaussichten einer auf diese Auslegung gestützten Rechtsverfolgung musste der Beklagte die Versicherungsnehmer hinweisen. Eine Aussichtslosigkeit der Rechtsverfolgung, die ein Eingreifen des Anscheinsbeweises zur Folge hätte, ergibt sich daraus jedoch nicht.  

  1. Kontext der Entscheidung

Mit Urteil vom 16. September 2021 hat der Senat Grundsätze zum Eingreifen des Anscheinsbeweises im Falle pflichtwidriger Beratung über die Erfolgsaussichten eines rechtlichen Vorgehens bei bestehendem Deckungsanspruch aus einer Rechtsschutzversicherung oder bereits vorliegender Deckungszusage entwickelt (BGH, Urteil vom 16. September 2021 – IX ZR 165/19). Danach besteht die Pflicht des Rechtsanwalts zur Beratung des Mandanten über die Erfolgsaussichten einer in Aussicht genommenen Rechtsverfolgung unabhängig davon, ob der Mandant rechtsschutzversichert ist oder nicht (BGH, Urteil vom 16. September 2021 – IX ZR 165/19 -, Rn. 26). Die Pflicht des Rechtsanwalts, den Mandanten über die Erfolgsaussichten einer in Aussicht genommenen Rechtsverfolgung aufzuklären, endet nicht mit deren Einleitung; verändert sich die rechtliche oder tatsächliche Ausgangslage im Laufe des Verfahrens, muss der Rechtsanwalt seinen Mandanten über eine damit verbundene Verschlechterung der Erfolgsaussichten aufklären (BGH, Urteil vom 16. September 2021 – IX ZR 165/19 -, Rn. 31). Ein bestehender Deckungsanspruch des Mandanten gegen seinen Rechtsschutzversicherer oder eine bereits vorliegende Deckungszusage können den Anscheinsbeweis für ein beratungsgerechtes Verhalten des Mandanten ausschließen; dies gilt nicht, wenn die Rechtsverfolgung objektiv aussichtslos war (BGH, Urteil vom 16. September 2021 – IX ZR 165/19 -, Rn. 38). In diesem Fall greift der Anscheinsbeweis nur ein, wenn die (weitere) Rechtsverfolgung des Mandanten objektiv aussichtslos war; ist das Kostenrisiko durch eine (versicherungs-)rechtlich einwandfrei herbeigeführte und daher bestandsfeste Deckungszusage weitestgehend ausgeschlossen, können schon ganz geringe Erfolgsaussichten den Mandanten dazu veranlassen den Rechtsstreit zu führen oder fortzusetzen (BGH, Urteil vom 16. Mai 2024 – IX ZR 38/23 –, Rn. 17).  

  1. Auswirkungen für die Praxis

Ein pflichtwidriges Verhalten des Rechtsanwalts ist vom Mandanten darzulegen und zu beweisen, selbst soweit es dabei um negative Tatsachen geht (BGH, Urt. v. 09.06.2011 - IX ZR 75/10 -, Rn. 10). Somit muss der Mandant, will er den Rechtsanwalt wegen Führung eines aussichtlosen Prozesses in Anspruch nehmen, darlegen und beweisen, über die Risiken nicht aufgeklärt worden zu sein. Die mit dem Nachweis einer negativen Tatsache verbundenen Schwierigkeiten werden dadurch ausgeglichen, dass die andere Partei die behauptete Fehlberatung substantiiert bestreiten und darlegen muss, wie im Einzelnen beraten bzw. aufgeklärt worden sein soll. Dem Anspruchsteller obliegt dann der Nachweis, dass diese Darstellung nicht zutrifft (BGH, Urt. v. 11.10.2007 - IX ZR 105/06 -, Rn. 12, dazu: Geisler, jurisPR-BGHZivilR 2/2008 Anm. 1). Wenn den Rechtsanwalt auch keine Dokumentationspflicht trifft, empfiehlt es sich trotzdem für den anwaltlichen Berater, die dem Mandanten erteilten Ratschläge schriftlich in Vermerkform niederzulegen oder dem Mandanten die erteilte Aufklärung schriftlich zu bestätigen. Hierzu gehören auch Verweise auf negative Rechtsfolgen und mögliche (Kosten-)Risiken für den Fall des Prozessverlustes (Vyvers, jurisPR-VersR 10/2019 Anm. 5).

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