BGH: Anforderungen an die Substantiierung
Ein Sachvortrag ist schlüssig und ausreichend substantiiert, wenn die vorgetragenen Tatsachen in Verbindung mit einem Rechtssatz geeignet sind, das geltend gemachte Recht zu begründen. Genügt das Parteivorbringen diesen Anforderungen an die Substantiierung, kann der Vortrag weiterer Einzeltatsachen nicht verlangt werden; es ist dann Sache des Tatrichters, bei der Beweisaufnahme Einzelheiten zu klären, die für ihn im Rahmen der Beweiswürdigung nach § 286 Abs. 1 ZPO erforderlich erscheinen.
BGH, Beschluss vom 23. November 2023 – V ZR 170/22
1. Problemstellung
Wieder einmal musste der BGH die Verletzung der grundgesetzlich geschützten Verletzung des rechtlichen Gehörs durch ein Instanzgericht feststellen, das überzogene Anforderungen an die Substantiierungspflicht der Klagepartei gestellt hatte.
2. Inhalt und Gegenstand der Entscheidung
Die Klägerin, die ein Unternehmen für Gerüstbau betreibt, lagerte ab Mitte September 2017 Gerüstmaterial, das sich auf dem Betriebsgelände eines ehemaligen Betonteilwerks befand, zu einem Lagerplatz auf dem Gelände um. Die Beklagte, ein Abbruchunternehmen, stellte ihr dafür am 10. Oktober 2017 einen Tieflader zur Verfügung. Auf dem Betriebsgelände stand eine Halle, die von einer anderen Firma gemietet und von dieser ebenfalls zur Lagerung von Gerüstteilen genutzt wurde. Etwa ab Mitte Oktober 2017 wurde die Halle anlässlich einer Räumungsklage der Vermieterin gegen die Mieterin geräumt. Ebenfalls ab Oktober 2017 führte die Beklagte im Auftrag einer Entwicklungsgesellschaft auf dem Betriebsgelände Abbruch- und Räumungsarbeiten durch. Gestützt darauf, sie sei Eigentümerin bzw. Leasingnehmerin und Mieterin des von ihr zu dem Lagerplatz verbrachten Materials (Gerüstteile, Gerüstaufzüge) gewesen, das Material habe sich am 5. November 2017 noch dort befunden und sei zwischen dem 6. und 7. November 2017 auf Veranlassung der Beklagten verschrottet worden, verlangt die Klägerin von der Beklagten Schadensersatz in Höhe von insgesamt 240.665,16 € (Wiederbeschaffungswert, Mehrkosten und entgangener Gewinn).
Das Landgericht hat die Klage abgewiesen. Das Oberlandesgericht hat die Berufung durch Beschluss zurückgewiesen. Es fehle an ausreichendem Sachvortrag der Klägerin zu Schadensersatzansprüchen gegen die Beklagte aus § 823 Abs. 1, Abs. 2 BGB iVm. §§ 303, 242, 246 StGB und §§ 858, 992 BGB. Der Klägerin sei es nicht möglich gewesen darzulegen, welche in ihrem Eigentum stehenden Gerüste und Gerüstteile sich zum Zeitpunkt der Verschrottung auf dem Gelände befunden hätten und welchen Wert das Material gehabt habe. Eine Eigentumsverletzung sei nach dem eigenen Sachvortrag der Klägerin nicht nachvollziehbar. Die bloße Behauptung, nicht näher bezeichnete Gerüstteile hätten in ihrem Eigentum gestanden, lasse weder die Annahme einer Eigentumsverletzung noch die Feststellung eines Schadens zu. Es könne nicht offenbleiben, welches Gerüstmaterial der Klägerin gehört habe und welches sie geleast bzw. gemietet habe. Der Klägerin als angeblicher Eigentümerin oder Besitzerin müsse es möglich sein, die vernichteten Gegenstände konkret zu bezeichnen. Der behauptete Besitz an dem Gerüstmaterial sei weder unter Beweis gestellt noch rechtfertige dessen Verletzung einen Anspruch auf Ersatz des Wiederbeschaffungswerts und des entgangenen Gewinns. Es sei bereits nicht dargelegt und unter Beweis gestellt, welche konkrete Nutzung der Klägerin habe ermöglicht werden sollen.
Die Nichtzulassungsbeschwerde hat Erfolg. Der angefochtene Beschluss ist aufzuheben, weil das Berufungsgericht den Anspruch der Klägerin auf Gewährung rechtlichen Gehörs (Art. 103 Abs. 1 GG) in entscheidungserheblicher Weise verletzt hat. Die Klägerin rügt mit Erfolg, dass die Annahme des Landgerichts, sie habe nicht dargelegt und bewiesen, dass sich das in der Klageschrift aufgeführte Gerüstmaterial am 6./7. November 2017 tatsächlich noch auf dem Betriebsgelände befunden und die Klägerin den Besitz daran ausgeübt habe, auf einer unzulässigen vorweggenommenen Beweiswürdigung beruht. Das Berufungsgericht hat diese Entscheidung rechtsfehlerhaft bestätigt, obwohl die Klägerin in der Berufungsbegründung auf ihre erstinstanzlichen Beweisangebote hingewiesen und die unterbliebene Vernehmung der angebotenen Zeugen gerügt hat (Art. 103 Abs. 1 GG). Die Klägerin hat bereits in erster Instanz vorgetragen, welche Gerüstteile sie infolge der Verschrottung vermisst. Zum Beweis dafür, dass sich die von ihr genannten Gegenstände bis zur Räumung des Lagerplatzes durch die Beklagte dort befunden hätten, hat sie die Vernehmung des Zeugen L. beantragt. Sie hat ferner Lichtbilder vorgelegt und vorgetragen, der Zeuge F., der im Auftrag des Beklagten die Gerüstteile in den Container verladen habe, habe diese Lichtbilder während der Verladung mit seiner Telefonkamera gefertigt. Die Klägerin hat zudem wiederholt geltend gemacht, sie sei zum Zeitpunkt der schädigenden Handlung jedenfalls Besitzerin des in der Klageschrift genannten Materials gewesen. Dafür hat sie die Vernehmung dreier Zeugen angeboten und ergänzend dargelegt, der Zeuge L. habe die mit der Klageschrift vorgelegte Inventarliste erstellt und könne deren Richtigkeit bezeugen. Nach ihrem konkretisierten Sachvortrag hat nur sie und kein anderes Gerüstbauunternehmen Zugriff auf den Lagerbestand gehabt.
Das Landgericht - und mit ihm das Berufungsgericht - durfte von der Beweiserhebung nicht mit der Begründung absehen, es bestünden Zweifel an dem Sachvortrag der Klägerin, weil deren Vorbringen zu den Eigentumsverhältnissen an dem Gerüstmaterial und zu der Inventarliste widersprüchlich sei. Das folgt schon daraus, dass auch der Besitz, wie das Berufungsgericht selbst erkennt, ein Schutzgut im Sinne des § 823 Abs. 1 BGB ist. Zudem beseitigt die aufgezeigte Widersprüchlichkeit die Schlüssigkeit des Vortrags der Klägerin zum Vorhandensein des Gerüstmaterials auf dem Lagerplatz bis unmittelbar vor der Verschrottung am 6. und 7. November 2017 nicht. Eine Partei ist nicht gehindert, ihr Vorbringen im Laufe des Rechtsstreits zu ändern, insbesondere zu präzisieren, zu ergänzen oder zu berichtigen. Dabei entstehende Widersprüchlichkeiten im Parteivortrag können allenfalls im Rahmen der Beweiswürdigung Beachtung finden. Die Nichtberücksichtigung eines erheblichen Beweisangebots wegen vermeintlicher Widersprüche im Vortrag der beweisbelasteten Partei läuft auf eine prozessual unzulässige vorweggenommene tatrichterliche Beweiswürdigung hinaus und verstößt damit zugleich gegen Art. 103 Abs. 1 GG.
Auch mit der Rüge, das Berufungsgericht habe - wie zuvor das Landgericht - den Vortrag der Klägerin zu den Eigentumsverhältnissen an dem Lagerbestand rechtsfehlerhaft als nicht hinreichend substantiiert bewertet, dringt die Beschwerde durch. Das Berufungsgericht überspannt die Anforderungen an die Substantiierung des Vortrags der Klägerin zu dem Eigentum an den von der Beklagten der Verschrottung zugeführten Gegenständen. Da die Handhabung der Substantiierungsanforderungen durch das Gericht dieselben einschneidenden Folgen hat wie die Anwendung von Präklusionsvorschriften, verletzt sie Art. 103 Abs. 1 GG bereits dann, wenn sie offenkundig unrichtig ist. So liegt es hier. Die Annahme des Berufungsgerichts, die Klageforderung sei unschlüssig, da die Klägerin nicht nachvollziehbar dargelegt habe, welche in ihrem Eigentum stehenden Gegenstände von der Beklagten der Verschrottung zugeführt worden sein sollen, ist offenkundig unrichtig. Ein Sachvortrag ist schlüssig und ausreichend substantiiert, wenn die vorgetragenen Tatsachen in Verbindung mit einem Rechtssatz geeignet sind, das geltend gemachte Recht zu begründen. Genügt das Parteivorbringen diesen Anforderungen an die Substantiierung, kann der Vortrag weiterer Einzeltatsachen nicht verlangt werden; es ist dann Sache des Tatrichters, bei der Beweisaufnahme Einzelheiten zu klären, die für ihn im Rahmen der Beweiswürdigung nach § 286 Abs. 1 ZPO erforderlich erscheinen. Für den Umfang der Darlegungslast ist der Grad der Wahrscheinlichkeit der Sachverhaltsschilderung ohne Bedeutung. Die Grenze zulässigen Vortrags ist erst erreicht, wenn das Fehlen jeglicher tatsächlicher Anhaltspunkte den Vorwurf begründet, eine Behauptung sei „ins Blaue hinein“ aufgestellt, mithin aus der Luft gegriffen, und stelle sich deshalb als Rechtsmissbrauch dar. Daran gemessen ist der in der ersten Instanz gehaltene und in der Berufungsinstanz wiederholte Vortrag der Klägerin zu einer Eigentumsverletzung im Sinne des § 823 Abs. 1 BGB schlüssig und hinreichend substantiiert. Die Klägerin hat in erster Instanz vorgetragen und unter Beweis gestellt, Eigentümerin der auf den Lagerplatz verbrachten Gegenstände gewesen zu sein. Sie hat zwar eingeräumt, dass sich auf dem Lagerplatz auch von ihr gemietetes und geleastes Gerüstmaterial befunden hat. Sie hat aber mit der Berufungsbegründung vorgetragen, Eigentümerin jedenfalls des ganz überwiegenden Lagerbestandes gewesen zu sein, insbesondere eines in den Jahren 2016 und 2017 angeschafften Baustellengerüsts, das sich noch am 6./7. November 2017 auf dem Lagerplatz befunden habe. Zum Beweis dafür hat sie Rechnungsbelege vorgelegt und die Vernehmung eines Zeugen beantragt. Eine Partei ist nicht gehindert, ihr Vorbringen im Laufe des Rechtsstreits zu ändern, insbesondere zu präzisieren, zu ergänzen oder zu berichtigen. Dabei entstehende Widersprüchlichkeiten im Parteivortrag können allenfalls im Rahmen der Beweiswürdigung Beachtung finden. Der Sachvortrag der Klägerin ist plausibel und lässt die Feststellung einer Eigentumsverletzung iSd. § 823 Abs. 1 BGB zu. Inwieweit die auf den Lagerplatz verbrachten Gegenstände im Eigentum der Klägerin standen, ist im Rahmen der Beweisaufnahme zu klären. Das gilt auch für die Frage, ob die Klägerin die von ihr erworbenen Gerüste und Gerüstteile nach der Verwendung auf den Baustellen überhaupt noch identifizieren konnte, oder ob Vermischung bzw. Vermengung mit dem geleasten bzw. gemieteten Gerüstmaterial eingetreten war, so dass die Klägerin nur noch Miteigentümerin war (§§ 948, 947 BGB). Es ist nicht ausgeschlossen, dass die im Wege der Beweisaufnahme gewonnenen Erkenntnisse als Grundlage für eine Schadensschätzung ausreichen (§ 287 ZPO).
Die Verletzung des Verfahrensgrundrechts der Klägerin aus Art. 103 Abs. 1 GG ist entscheidungserheblich. Es ist nicht auszuschließen, dass das Berufungsgericht nach einer Vernehmung des Zeugen und gegebenenfalls ergänzender Parteianhörung zu einer anderen Entscheidung gekommen wäre.
3. Kontext der Entscheidung
Im Interesse der Wahrung des Grundrechts aus Art. 103 Abs. 1 GG darf das Gericht keine überspannten Anforderungen an die Darlegung stellen. Vermag sich eine Partei an ein Geschehen nicht zu erinnern, kann sie dazu gleichwohl eine ihr günstige Behauptung unter Zeugenbeweis stellen, wenn sie hinreichende Anhaltspunkte dafür vorträgt, dass der Zeuge das notwendige Wissen hat. Ob und inwieweit der Zeuge in der Lage ist, sich zu erinnern, ist erst durch die Vernehmung des Zeugen und die daran anschließende Würdigung seiner Aussage zu klären. Der Grad der Wahrscheinlichkeit der Sachverhaltsschilderung der Partei ist ohne Bedeutung. Die Angabe näherer Einzelheiten ist nicht erforderlich, soweit diese für die Rechtsfolgen nicht von Bedeutung sind. Das Gericht muss nur in die Lage versetzt werden, aufgrund des tatsächlichen Vorbringens der Partei zu entscheiden, ob die gesetzlichen Voraussetzungen für das Bestehen des geltend gemachten Rechts vorliegen. Sind diese Anforderungen erfüllt, muss das Gericht in die Beweisaufnahme eintreten und dabei gegebenenfalls die benannten Zeugen oder die zu vernehmende Partei nach weiteren Einzelheiten befragen oder einem Sachverständigen die beweiserheblichen Streitfragen unterbreiten (BGH, Beschluss vom 14. März 2017 – VI ZR 225/16). Ein Beweisantritt für erhebliche, nicht willkürlich ins Blaue hinein aufgestellte Tatsachen darf nur dann unberücksichtigt bleiben, wenn das angebotene Beweismittel ungeeignet ist, weil es im Einzelfall zur Beweisbehauptung erkennbar keine sachdienlichen Ergebnisse erbringen kann, oder wenn die unter Beweis gestellte Tatsache so ungenau bezeichnet ist, dass ihre Erheblichkeit nicht beurteilt werden kann (BGH, Beschluss vom 1. Juni 2005 – XII ZR 275/02). Der Beweisführer ist grundsätzlich nicht gehindert, Tatsachen zu behaupten, über die er keine genauen Kenntnisse hat, die er aber nach Lage der Dinge für wahrscheinlich hält; ein unzulässiger Ausforschungsbeweis liegt erst dann vor, wenn der Beweisführer ohne greifbare Anhaltspunkte für das Vorliegen eines bestimmten Sachverhalts willkürlich Behauptungen „aufs Geratewohl“ oder „ins Blaue hinein“ aufstellt (BGH, Urteil vom 8. Mai 2012 – XI ZR 262/10). Durch ein Bestreiten des Beklagten mit Nichtwissen erhöhen sich die Substantiierungsanforderungen für den Kläger nicht; es führt allein dazu, dass die mit Nichtwissen bestrittene Behauptung beweisbedürftig wird (BGH, Beschl. v. 25. September 2018 – VI ZR 234/17).
4. Auswirkungen für die Praxis
Für die Praxis wichtig ist der Hinweis, den der BGH für den Fall erteilt, dass die Klägerin ihr Eigentum nicht oder nur zum Teil beweisen kann. Dann ist nämlich der durch den Besitzverlust eingetretene Schaden zu prüfen und der Klägerin Gelegenheit zu geben, ihren Besitzschaden zu berechnen. Soll der berechtigte Besitz dazu dienen, eine bestimmte Nutzung der Sache zu ermöglichen, stellt es eine Rechtsgutsverletzung gemäß § 823 Abs. 1 BGB dar, wenn der Besitzer an eben dieser Nutzung durch einen rechtswidrigen Eingriff in relevanter Weise gehindert wird. Das ist bei einer Vernichtung von Gerüstmaterial, das eine Gerüstbaufirma gemietet oder geleast hat, ohne weiteres naheliegend. Der bestimmungsgemäße Gebrauch von Gerüstteilen besteht im Einsatz auf Baustellen. Zu ersetzen ist der Nachteil, der durch den Ausfall der Sache infolge der Beschädigung der Miet-, Pacht- oder Leasingsache entstanden ist wie z.B. Mietkosten und entgangener Gewinn (BGH, Beschluss vom 23. November 2023 – V ZR 170/22 –, Rn. 16).
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